Stille nach dem Schlussakkord – Konzerte via Live-Stream enden für Musikerinnen und Musiker ohne Applaus. Wie das Publikum vor den Bildschirmen aussieht, ob dort vielleicht jemand klatscht, das wissen die Musiker nicht. Das fehlt dem Schlagzeuger der Indie-Band Remedy, Benedikt Wiehle:
Aber Konzerte mit richtigem Publikum waren seit dem ersten Corona-Lockdown nur selten erlaubt in Deutschland.
Musikerinnen und Musiker sehnen sich nach dem Musikmachen
Von Einschränkungen betroffen sind die rund 130 Berufsorchester genauso wie zahllose freie Musikerinnen und Musiker, Bands, Laien-Chöre und Musikvereine. Ihnen entgeht durch die abgesagten Veranstaltungen mehr als finanzielle Einnahmen. Die Band Remedy spielt normalerweise mehrere Dutzend Konzerte im Jahr, in Clubs und auf Open-Air-Festivals. Auf Tour zu sein bedeutet für Schlagzeuger Wiehle auch jedes Mal: Gemeinschaftsgefühl schon auf der Fahrt dorthin, Stimmung beim Soundcheck, „Gefühlsexplosion“ auf der Bühne. „Eine größere Endorphin-Ausschüttung als bei einem Auftritt gibt es für mich nicht“, sagt er.
Der Dirigent der Badischen Staatskapelle Georg Fritzsch meint:
Musikmediziner warnen bereits, dass sich allzu lange Berufspausen auf das psychische Wohlbefinden der Musikerinnen und Musiker auswirken können.
Keine Chöre in Weihnachtsgottesdiensten
Das erklärt den Elan, mit dem die Badische Staatskapelle im Oktober 2020 probte, nach einem halben Jahr Corona-Pause. Doch mit dem November-Lockdown bahnte sich an: Die meisten Weihnachtskonzerte in Deutschland werden nur im Internet per Stream stattfinden können. In Weihnachtsgottesdiensten darf nicht gesungen werden, wie Mitte Dezember kurzfristig beschlossen wurde. Das trifft Chöre und Solisten hart. Wenigstens an Weihnachten miteinander und für ein Publikum Musik zu machen – darauf hatten sich viele Ensembles mit Hingabe vorbereitet, inklusive Hygienekonzept und Proben auf Abstand.
Woran können sich Musikgruppen orientieren?
- Die Vorstände der sieben großen Berliner Orchester hatten im Mai gemeinsam mit Epidemiologen und Hygieneexperten der Charité einen Leitfaden erarbeitet, wie in Zukunft unter Corona musiziert werden könnte. Das übernahmen viele Orchester.
- Das Institut für Musikermedizin in Freiburg aktualisiert regelmäßig seine Risikoeinschätzungen auf seiner Homepage. Die Leiter Claudia Spahn und Bernhard Richter haben Messungen durchgeführt, welche Luftbewegungen ein Blasinstrument um sich herum verbreitet als Träger von Aerosolen. Daraufhin empfahlen sie: Nach vorne sollen die Musiker einen Abstand von drei Metern einhalten, zur Seite anderthalb.
- Ein Forscherteam der Bauhausuniversität Weimar hat ebenfalls den Luftstrom beim Gesang und bei Blasmusik untersucht. Zuerst hatte die Universität ein Video veröffentlicht, in dem jemand hustet, mit vorgehaltener Hand und ohne, in die Armbeuge und mit Maske. Über das Video sind mehrere Orchester auf die Wissenschaftler aufmerksam geworden.
Der Abstand wirkt sich auf die Musikauswahl aus
Die Musiker der Badischen Staatskapelle probten über die ganze Bühne verteilt, zwischen den Stühlen jeweils zwei Meter Abstand. In der Jugendkantorei der Durlacher Stadtkirche hielten die Sängerinnen und Sänger anfangs sogar sechs Meter Abstand. Wenn Soprane und Bässe teilweise 20 Meter voneinander entfernt stehen, kommen nicht mehr alle Musikstücke infrage. Der Leiter der Jugendkantorei, Johannes Blomenkamp, wählte daher Stücke, „die homophon sind, wo alle gleichzeitig die gleichen Silben singen.“ Rhythmisch Geprägtes, Schnelles, variable Themeneinsätze, das sei dagegen schwierig.
Erhöhtes Infektionsrisiko beim Singen
Besonders beim gemeinsamen Musizieren sind Abstandhalten und Lüften wichtig, weil zum Beispiel beim Singen bis zu hundertmal mehr Aerosole ausgeschieden werden als beim Sprechen. Aerosole sind die gasförmigen Gemische aus feuchten und festen Partikeln, die wir Menschen ausatmen. Daher ist das Infektionsrisiko beim Singen in kleinen Räumen hoch.
Experimente machen Atemluft sichtbar
Forscher von der Universität Weimar haben in Experimenten nachgewiesen, dass die Atemluft beim Singen 20 bis 90 Zentimeter in den Raum reicht – sowohl bei einer Tonleiter als auch bei einem anspruchsvollen Stück. Bei ihren Experimenten zu Gesang und Blasmusik machen die Forscher um Lia Becher die Atemluft mit dem sogenannten Schlieren-Verfahren sichtbar. Dazu stehen die Musiker vor einem besonders geschliffenen, runden Spiegel. Eine Kamera kann dann die Luftbewegungen beim Atmen als Schlieren sichtbar machen. Wie heißer, aufsteigender Wasserdampf sehen sie aus. Das funktioniert, weil Lichtstrahlen abgelenkt werden, wenn sie durch die warme Atemluft fallen. Denn diese hat eine andere Dichte als die umgebende Luft.
Die Blechblasinstrumente stoßen nur am Schalltrichter Luft aus. Die Trompete mit 33 Zentimetern am wenigsten weit, das Horn mit über 70 Zentimetern am weitesten. Bei den Holzblasinstrumenten wie der Oboe oder der Klarinette ist am Mundstück die Reichweite der entweichenden Luft am größten.
Mit Filtern den Luftstrom reduzieren
Der Industriedesigner Andreas Mühlenberend hat auf diese Messungen hin ein Visier entwickelt, das aussieht wie ein gebogenes Segel: Vor das Mundstück einer Querflöte gespannt, reduziert es den Luftstrom auf fünfzehn Zentimeter. Auch bei Blechblasinstrumenten können Filter helfen, sogar selbstgemachte aus Küchenpapier.
Bis das Musizieren wieder ohne Abstand möglich ist, versuchen Musikerinnen und Musiker, dem Abstand etwas Positives abzugewinnen. Der Einzelne übernimmt mehr Verantwortung, wenn er sich nicht auf die Nachbarn verlassen kann. Und Chorleiter Blomenkamp hat festgestellt: In den Proben wird weniger gequatscht.