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9/11 – Als Terror zum Medienevent wurde

Stand
Autor/in
Marisa Gierlinger
Onlinefassung
Claudia Neumeier
Candy Sauer

Durch die Allgegenwart von (sozialen) Medien erleben wir Katastrophen als Kollektiv und wollen daran teilhaben. Die Zurschaustellung von Empathie ist zum Statussymbol geworden.

11. September 2001: Menschen weltweit verfolgen die Ereignisse live

Der 11. September 2001 hat die Art verändert, wie die Welt Katastrophen erlebt und abspeichert. Um 8 Uhr 45 Ortszeit rast eine Passagiermaschine in den Nordturm des World Trade Centers in New York. Als zwanzig Minuten später ein weiteres Flugzeug im Südturm einschlägt, sind bereits Zuschauer auf der ganzen Welt live zugeschaltet. Fast 3.000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, sterben an diesem Tag.

Weltweite Anteilnahme: Reisende verfolgen auf einem Bildschirm am Hauptbahnhof in München eine Fernsehübertragung des Terroranschlages von New York am 11. September 2001
Weltweite Anteilnahme: Reisende verfolgen auf einem Bildschirm am Hauptbahnhof in München eine Fernsehübertragung des Terroranschlages von New York am 11. September 2001

9/11 geht ins kollektive Gedächtnis ein

Viele haben den Tag in Erinnerung als einen der schrecklichsten Momente, die sie zumindest am Bildschirm erlebt haben. Das gleichzeitige Erleben eines Ereignisses, auch durch die Medien, schafft kollektive Emotionen – und kann aus einer Menge einzelner Zuschauer eine Art Gemeinschaft machen.

Die Bilder der Katastrophe fesseln Menschen aus aller Welt vor den Bildschirmen – nicht nur während der Live-Berichterstattung, sondern auch in den Wochen darauf und bis heute an Jahrestagen, an denen sie bis zum Exzess wiederholt werden.

"Angriff auf den Westen": Berichterstattung aus Opfersicht

Tonangebend darin, welche Bilder und Geschichten auch in anderen Ländern aufgegriffen und wiederholt werden, ist vor allem die US-amerikanische Berichterstattung. Das kommt der politischen Positionierung der USA nicht ungelegen. Die USA sind das Opfer, und Opfer sind unschuldig. Obwohl in Europa die Vorgeschichte mit den US-Aktivitäten im Nahen Osten bekannt ist und auch immer wieder in die Berichterstattung mit einfließt, entfaltet sich eine gewisse Kollektivierung. Der Angriff wurde schnell als Angriff auf den Westen – also auch Europa – wahrgenommen: Wenn es die USA treffen kann, kann es auch bei uns passieren.

Islam wird nach 9/11 zum Feindbild der westlichen Welt

Ab sofort ist der Islam das Feindbild der westlichen Welt. In den USA, aber auch in Europa setzen viele bis heute Terror mit Islam gleich. Es dauerte nicht lange, bis nach den Anschlägen Muslime, Araber oder auch Menschen, die man optisch so einordnete, stigmatisiert, diskriminiert und verdächtigt wurden.

Islamistische Terroranschläge hatte es schon in den Jahrzehnten davor gegeben. Besonders viel Medienöffentlichkeit fanden sie im Westen aber nicht. Diese Dinge spielten sich in weiter Ferne ab: im Nahen und Mittleren Osten, in afrikanischen Staaten.

"Die Anzahl von Opfern des Islamismus in der Islamischen Welt ist erheblich größer als in der westlichen Welt. Es interessiert nur in der westlichen Welt niemanden, weil es tatsächlich die anderen sind."

In westlichen Industrienationen hingegen fühlte man sich seit dem Zweiten Weltkrieg und erst recht nach dem Fall der Mauer 1989 und dem vorläufigen Ende des Kalten Kriegs weitgehend sicher und geschützt. Krieg und Terror, das war woanders. Der 11. September 2001 trifft auf eine Generation westlicher Menschen, die keine Bedrohungslage kennen.

Der Terror kommt nach Europa – und trifft auf ungebrochene Solidarität

Madrid, London, Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, Wien. Es sind nur ein paar der Städte auf einer traurigen Liste. Der Terror kommt nach Europa und stößt auf ungebrochene Solidarität. Flaggen wehen auf Halbmast, Fußballspiele werden abgesagt, Schweigeminuten gehalten.

Deutschland nimmt Anteil am 15. November 2015 nach den Terroranschlaegen von Paris am 13. November 2015, bei dem 130 Menschen getötet und fast 700 verletzt wurden. Das Brandenburger Tor wurde als Zeichen der Solidarität mit den Farben der Trikolore angestrahlt. Die Angriffserie betraf das Stade de France, ein Rockkonzert im Bataclan-Theater sowie zahlreicher Bars, Cafés und Restaurants.
Deutschland nimmt Anteil am 15. November 2015 nach den Terroranschlaegen von Paris am 13. November 2015, bei dem 130 Menschen getötet und fast 700 verletzt wurden. Das Brandenburger Tor wurde als Zeichen der Solidarität mit den Farben der Trikolore angestrahlt. Die Angriffserie betraf das Stade de France, ein Rockkonzert im Bataclan-Theater sowie zahlreicher Bars, Cafés und Restaurants.

Nach den verheerenden Anschlägen in Paris 2015 leuchten Wahrzeichen weltweit in den Farben blau, weiß und rot. Die Bilder davon verbreiten sich viral im Netz, so wie kaum ein Jahr davor das millionenfach geteilte „Je suis Charlie“ nach einer tödlichen Attacke auf das Redaktionsteam des Satiremagazins Charlie Hebdo.

Das Narrativ, dass „wir alle“ getroffen sind, hat sich mittlerweile eingespielt. Ein Unterschied zu 9/11: Inzwischen gibt es soziale Medien wie Facebook, Twitter, Instagram. Eine Welle der Anteilnahme nimmt dort ihren Lauf und erfasst die internationale Staatengemeinschaft. Auch zahlreiche Politiker bekunden über Twitter ihr Mitgefühl.

Zwei Frauen tragen Schilder mit der Aufschrift "Je suis Charlie".
Tausende Menschen nehmen am 13. Januar 2015 am Brandenburger Tor in Berlin an der Mahnwache für Weltoffenheit und Toleranz teil. Sie demonstrieren für Meinungs-, Religions- und Pressefreiheit und bringen ihre Solidarität mit Frankreich zum Ausdruck. Am 7. Januar 2015 war ein islamistisch motivierte Terroranschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" in Paris verübt worden. 12 Menschen wurden getötet, mehrere wurden verletzt.

Medialer Wandel: jeder kann Texte, Bilder und Kommentare teilen

2001 gibt es zwar schon fast überall Internet, aber noch nicht die Art von permanenter Nutzung, wie wir sie heute kennen. Vorherrschende Medien waren noch Radio und Fernsehen. Doch es sind bereits die Jahre des medialen Wandels: Facebook wurde 2004 gegründet, seit 2005 gibt es Youtube, 2006 wurde Twitter gegründet. In den Folgejahren gewinnen soziale Netzwerke immer mehr Nutzer und damit gesellschaftliche Bedeutung.

Die Verbreitung von Bildern ist nicht mehr auf die sorgfältige Auswahl durch Redaktionen angewiesen. Zeitgleich, interaktiv und demokratisch kann jeder und jede daran teilnehmen, kommentieren und die eigene Betroffenheit zeigen. Das dient nicht nur dem Selbstbild, sondern erzeugt auch sozialen Druck bei anderen Nutzern, ebenfalls Stellung zu beziehen, sagt der Kognitions- und Geisteswissenschaftler Fritz Breithaupt.

Empathie als Statussymbol: mitfühlen, Bescheid wissen, Haltung zeigen

Diese Art von Empathie-Wetteifer – oder, wie Fritz Breithaupt sie auch nennt: "Ellbogen-Empathie" – mache sich etwa bei der Bewerbung für Elite-Universitäten bemerkbar, wo soziales Engagement inzwischen fast höher gewertet werde als schulischer Erfolg. Es ist aber auch ein Phänomen, das sich im Nachgang an große Katastrophen online beobachten lässt. Denn im Gegensatz zum Live-Fernsehen beschränken sich heutige Medienkollektive nicht auf das gemeinsame Erleben. Sie ermutigen auch eine aktive Beteiligung in Form von Kommentaren und geteilten Symbolen.

Pappschild mit einem zum Peace-Symbol stilisierten Eiffelturm inmitten von Blumen: Menschen zeigen Anteilnahme für die Opfer der Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris: #JeSuisParis #PrayForParis
Menschen zeigen Anteilnahme für die Opfer der Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris: #JeSuisParis #PrayForParis

Hashtags wie „Pray for Belgium“ und “Je suis Charlie“ oder das Bild von einem zum Peace-Symbol stilisierten Eiffelturm, das millionenfach geteilt wird: Mittlerweile sind solche Betroffenheitsgesten bei großen Katastrophen kaum noch wegzudenken. Aber ist das echte Anteilnahme oder virtuelles Wetteifern? Das muss sich nicht widersprechen, sagt die Medienwissenschaftlerin Ludmila Lupinacci. „Dahinter kann tatsächlich Mitgefühl für die Opfer stehen. Gleichzeitig präsentiert man sich aber auch als jemand, der Bescheid weiß und auf dem Laufenden ist. Und auch politische Haltung zeigt.“

Digitale Medien können spalten – oder ein Gemeinschaftsgefühl schaffen

Die Weltgemeinschaft hat sich durch digitale Medien eher aufgesplittert, als näher zusammenzurücken – diese Auffassung scheint in den letzten Jahren zu überwiegen. Und doch lässt sich kaum leugnen, dass gemeinsam erlebte Extremsituationen die Fähigkeit haben, Menschen zusammenzuschweißen. Das war auch in den ersten Krisenmonaten der Corona-Pandemie zu beobachten. Der 11. September 2001 wird als solches Ereignis jedenfalls noch länger einen besonderen Platz einnehmen.

9/11

11. September 2001 Muslime in den USA – Zwischen Integration und Terror-Verdacht

Noch am Tag der Terroranschläge haben viele Musliminnen und Muslime in den USA eine neue Art der Ablehnung und des Hasses gespürt. 20 Jahre danach sind sie trotz allem im öffentlichen Leben sichtbar.

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11. September 2001 im SWR2 Archivradio

11.9.2001 15:30 Uhr: George W. Bushs erste Reaktion auf die Terroranschläge

11.9.2001 | US-Präsident George W. Bush, gerade 8 Monate im Amt, befindet sich zur Zeit der Anschläge auf das World Trade Center in Florida und besucht eine Grundschule in Sarasota, um für seine Schulreformen zu werben.

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