11. September 2001: Menschen weltweit verfolgen die Ereignisse live
Der 11. September 2001 hat die Art verändert, wie die Welt Katastrophen erlebt und abspeichert. Um 8 Uhr 45 Ortszeit rast eine Passagiermaschine in den Nordturm des World Trade Centers in New York. Als zwanzig Minuten später ein weiteres Flugzeug im Südturm einschlägt, sind bereits Zuschauer auf der ganzen Welt live zugeschaltet. Fast 3.000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, sterben an diesem Tag.
So hat der Rundfunk 2001 über die Anschläge berichtet
9/11 geht ins kollektive Gedächtnis ein
Viele haben den Tag in Erinnerung als einen der schrecklichsten Momente, die sie zumindest am Bildschirm erlebt haben. Das gleichzeitige Erleben eines Ereignisses, auch durch die Medien, schafft kollektive Emotionen – und kann aus einer Menge einzelner Zuschauer eine Art Gemeinschaft machen.
Die Bilder der Katastrophe fesseln Menschen aus aller Welt vor den Bildschirmen – nicht nur während der Live-Berichterstattung, sondern auch in den Wochen darauf und bis heute an Jahrestagen, an denen sie bis zum Exzess wiederholt werden.
"Angriff auf den Westen": Berichterstattung aus Opfersicht
Tonangebend darin, welche Bilder und Geschichten auch in anderen Ländern aufgegriffen und wiederholt werden, ist vor allem die US-amerikanische Berichterstattung. Das kommt der politischen Positionierung der USA nicht ungelegen. Die USA sind das Opfer, und Opfer sind unschuldig. Obwohl in Europa die Vorgeschichte mit den US-Aktivitäten im Nahen Osten bekannt ist und auch immer wieder in die Berichterstattung mit einfließt, entfaltet sich eine gewisse Kollektivierung. Der Angriff wurde schnell als Angriff auf den Westen – also auch Europa – wahrgenommen: Wenn es die USA treffen kann, kann es auch bei uns passieren.
Islam wird nach 9/11 zum Feindbild der westlichen Welt
Ab sofort ist der Islam das Feindbild der westlichen Welt. In den USA, aber auch in Europa setzen viele bis heute Terror mit Islam gleich. Es dauerte nicht lange, bis nach den Anschlägen Muslime, Araber oder auch Menschen, die man optisch so einordnete, stigmatisiert, diskriminiert und verdächtigt wurden.
Islamistische Terroranschläge hatte es schon in den Jahrzehnten davor gegeben. Besonders viel Medienöffentlichkeit fanden sie im Westen aber nicht. Diese Dinge spielten sich in weiter Ferne ab: im Nahen und Mittleren Osten, in afrikanischen Staaten.
In westlichen Industrienationen hingegen fühlte man sich seit dem Zweiten Weltkrieg und erst recht nach dem Fall der Mauer 1989 und dem vorläufigen Ende des Kalten Kriegs weitgehend sicher und geschützt. Krieg und Terror, das war woanders. Der 11. September 2001 trifft auf eine Generation westlicher Menschen, die keine Bedrohungslage kennen.
Der Terror kommt nach Europa – und trifft auf ungebrochene Solidarität
Madrid, London, Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, Wien. Es sind nur ein paar der Städte auf einer traurigen Liste. Der Terror kommt nach Europa und stößt auf ungebrochene Solidarität. Flaggen wehen auf Halbmast, Fußballspiele werden abgesagt, Schweigeminuten gehalten.
Nach den verheerenden Anschlägen in Paris 2015 leuchten Wahrzeichen weltweit in den Farben blau, weiß und rot. Die Bilder davon verbreiten sich viral im Netz, so wie kaum ein Jahr davor das millionenfach geteilte „Je suis Charlie“ nach einer tödlichen Attacke auf das Redaktionsteam des Satiremagazins Charlie Hebdo.
Das Narrativ, dass „wir alle“ getroffen sind, hat sich mittlerweile eingespielt. Ein Unterschied zu 9/11: Inzwischen gibt es soziale Medien wie Facebook, Twitter, Instagram. Eine Welle der Anteilnahme nimmt dort ihren Lauf und erfasst die internationale Staatengemeinschaft. Auch zahlreiche Politiker bekunden über Twitter ihr Mitgefühl.
Medialer Wandel: jeder kann Texte, Bilder und Kommentare teilen
2001 gibt es zwar schon fast überall Internet, aber noch nicht die Art von permanenter Nutzung, wie wir sie heute kennen. Vorherrschende Medien waren noch Radio und Fernsehen. Doch es sind bereits die Jahre des medialen Wandels: Facebook wurde 2004 gegründet, seit 2005 gibt es Youtube, 2006 wurde Twitter gegründet. In den Folgejahren gewinnen soziale Netzwerke immer mehr Nutzer und damit gesellschaftliche Bedeutung.
Die Verbreitung von Bildern ist nicht mehr auf die sorgfältige Auswahl durch Redaktionen angewiesen. Zeitgleich, interaktiv und demokratisch kann jeder und jede daran teilnehmen, kommentieren und die eigene Betroffenheit zeigen. Das dient nicht nur dem Selbstbild, sondern erzeugt auch sozialen Druck bei anderen Nutzern, ebenfalls Stellung zu beziehen, sagt der Kognitions- und Geisteswissenschaftler Fritz Breithaupt.
Empathie als Statussymbol: mitfühlen, Bescheid wissen, Haltung zeigen
Diese Art von Empathie-Wetteifer – oder, wie Fritz Breithaupt sie auch nennt: "Ellbogen-Empathie" – mache sich etwa bei der Bewerbung für Elite-Universitäten bemerkbar, wo soziales Engagement inzwischen fast höher gewertet werde als schulischer Erfolg. Es ist aber auch ein Phänomen, das sich im Nachgang an große Katastrophen online beobachten lässt. Denn im Gegensatz zum Live-Fernsehen beschränken sich heutige Medienkollektive nicht auf das gemeinsame Erleben. Sie ermutigen auch eine aktive Beteiligung in Form von Kommentaren und geteilten Symbolen.
Hashtags wie „Pray for Belgium“ und “Je suis Charlie“ oder das Bild von einem zum Peace-Symbol stilisierten Eiffelturm, das millionenfach geteilt wird: Mittlerweile sind solche Betroffenheitsgesten bei großen Katastrophen kaum noch wegzudenken. Aber ist das echte Anteilnahme oder virtuelles Wetteifern? Das muss sich nicht widersprechen, sagt die Medienwissenschaftlerin Ludmila Lupinacci. „Dahinter kann tatsächlich Mitgefühl für die Opfer stehen. Gleichzeitig präsentiert man sich aber auch als jemand, der Bescheid weiß und auf dem Laufenden ist. Und auch politische Haltung zeigt.“
Digitale Medien können spalten – oder ein Gemeinschaftsgefühl schaffen
Die Weltgemeinschaft hat sich durch digitale Medien eher aufgesplittert, als näher zusammenzurücken – diese Auffassung scheint in den letzten Jahren zu überwiegen. Und doch lässt sich kaum leugnen, dass gemeinsam erlebte Extremsituationen die Fähigkeit haben, Menschen zusammenzuschweißen. Das war auch in den ersten Krisenmonaten der Corona-Pandemie zu beobachten. Der 11. September 2001 wird als solches Ereignis jedenfalls noch länger einen besonderen Platz einnehmen.