Das komplette Interview mit Turnexperte Philipp Sohmer im Audio:
Die Kernaussagen des Interviews in Textform:
SWR Sport: Wie überraschend waren für dich als langjähriger Turnreporter und Kenner der Szene die Aussagen und Vorwürfe der vergangenen Tage?
Philipp Sohmer: Auf der einen Seite ist es überraschend, in welcher Breite und in welcher Wucht diese Vorwürfe von so vielen, vielen Turnerinnen ans Licht gekommen sind. Auf der anderen Seite hat man natürlich über die Jahre auch Gerüchte von Vorgängen gehört, die ein bisschen zweifelhaft waren. Es hat sich aber nie jemand so richtig rausgetraut mit den Vorwürfen in der Öffentlichkeit - außer Ehemalige, da konnte man das lesen. Im sehr guten Buch von Kim Bui etwa, '45 Sekunden', wo die ganzen Gefahren des Turnens aufgezeigt wurden. Da geht's um Ernährung, um Essstörung, um den enormen Leistungsdruck, um teilweise rücksichtsloses Training, um Training trotz Verletzung. Das kommt jetzt alles wieder und zwar in einer Breite, einer Wucht, die mich schockiert hat, da sich offenbar so wenig geändert hat.
SWR Sport: Es gab schriftliche Stellungnahmen vom Deutschen Turner-Bund (DTB) und vom Schwäbischen Turnerbund (STB), in denen es heißt, man habe bereits vor einigen Jahren Maßnahmen eingeleitet. Wurden diese Maßnahmen nicht ernst genommen oder bewusst nicht angewandt?
Es gibt seit einigen Jahren die Initiative des Deutschen Turner-Bundes, die da heißt: 'Leistung mit Respekt'. Das hat man sich auf die Fahnen geschrieben, da geht es darum, einen respektvollen und gewaltfreien Leistungssport zu gewährleisten. Und in dem Konzept stehen vernünftige Sachen drin wie etwa die Anhebung der Altersgrenze im Frauenturnen von 16 Jahren, wie sie bisher ist, auf 18 Jahre. Das ist natürlich ein großes Problem mit dem Turnen, dass eigentlich Kinder schon so früh Höchstleistung bringen müssen, abhängig sind von ihren Trainerinnen und Trainern, nicht wissen, was gut für sie ist und ein Stück weit ausgeliefert sind.
SWR Sport: Reicht es aus, Trainerinnen und Trainer zu entlassen und dann wird alles gut?
Es gibt nur eine sehr kleine Anzahl von Trainerinnen und Trainern im Turnen. Die meisten haben selbst geturnt, kommen aus diesem alten System. Neue Leute zu bekommen, die einen neuen Geist reinbringen, ist wahnsinnig schwer, weil es mies bezahlt ist. Und so springen diese Trainerinnen und Trainer immer wieder auf das Karussell. Beispielsweise die eine Trainerin, die nach unseren Informationen freigestellt worden sein soll: Am Kunst-Turn-Forum Stuttgart ist sie schon 2007 wegen genau solcher Vorwürfe suspendiert gewesen, kam aber nach einiger Zeit zurück und hat wieder dort trainiert über lange Jahre. Und es gab ja genug Hinweise, lange Briefe von ehemaligen Turnerinnen und sogar einer Trainerin. Die Führung vom DTB und vom STB muss sich fragen lassen: Wie viel haben sie gewusst? Haben sie nicht entschlossen genug gehandelt? Haben sie vielleicht sogar weggeschaut? Genau diese Fragen will nach unseren Informationen auch die Politik stellen, das Kultusministerium als Geldgeber des Kunst-Turn-Forums beispielsweise. Ich bin sehr gespannt auf die Antworten.
Nach schweren Vorwürfen DTB räumt ein: Es gab "wohl weiterhin Verfehlungen" nach Tabea Alts Brief
Die Missbrauchsvorwürfe am Turn-Bundesstützpunkt in Stuttgart schlagen weiter hohe Wellen. Der Deutsche Turner-Bund (DTB) zeigte nun Verständnis dafür, dass die Sportlerinnen sich an die Öffentlichkeit gewandt haben.
SWR Sport: Kommende Woche wollen Bundestrainer Gerben Wiersma und Nachwuchsbundestrainerin Claudia Schunk in Stuttgart Einheiten übernehmen. Was kann das bringen?
Es hat erstmal den Effekt, dass ein normales Training stattfinden kann. Mit Personalrochaden allein ist es ganz sicher generell gesagt nicht getan. Es muss ein Umdenken geben. Gerben Wiersma - gegen ihn hat es in seiner Zeit in den Niederlanden Vorwürfe gegeben. Er hat sich, so weit ich es beurteilen kann, zum Positiven verändert. Dazu kommt Claudia Schunk, die ja auch schon sehr lange im System ist, mit der Elisabeth Seitz lange in Mannheim zusammengearbeitet hat, bis sie sich entschlossen hat, nach Stuttgart zu gehen, weil es einfach nicht mehr gepasst hat und auch Dinge vorgefallen sind. Also beide sind schon lange im System und offenbar haben auch die beiden aktuell nicht mitbekommen, dass es doch große Nöte bei den Athletinnen gab. Es geht nur mit einem Umdenken. Jeder muss sich hinterfragen, noch genauer hinschauen. Nur so kann es zu einer Veränderung kommen, die dringend notwendig ist.