Es stimmt schon: Die Entscheidung, die IOC-Präsident Bach zu treffen hat, ist keine leichte. Die Olympischen Spiele sollen zur Völkerverständigung beitragen und dazu gehört es natürlich auch, verfeindeten Parteien eine gemeinsame Plattform zu bieten. Das verstehe ich. Doch es gibt für alles seine Zeit. Verständigung ja, aber bitte erst nach dem Krieg.
Wer die schrecklichen Folgen des russischen Angriffs kennt, dem ist klar: Ukrainische und russische Sportler werden bei diesen Spielen nicht aufeinander zugehen. Ukrainische Versöhnungsgesten kann und wird es nicht geben, solange russische Raketen die Häuser der ukrainischen Sportler zerstören und russische Soldaten ihre Familien töten. Und auch von russischen Athleten ist kein Zeichen gegen den Krieg zu erwarten - sei es aus echter ideologischer Einstellung oder aus Angst vor Repressionen im Heimatland. Die Zeit der Verständigung wird kommen - aber diese Zeit ist nicht jetzt.
Russland hat ohnehin kein Interesse an einem unpolitischen Sportereignis. Hat Bach die russische Propaganda-Veranstaltung vom vergangenen März bereits vergessen? Die Parade russischer Top-Athleten, die Wladimir Putin zu Propagandazwecken im Moskauer Luschniki-Stadion vor 200.000 Zuschauern aufmarschieren ließ? Weltklasse-Sportler, die mit dem Kriegssymbol "Z" auf der Brust und Medaillen um den Hals ihre Zustimmung zum Krieg kundtaten. Wollen wir wirklich, dass diese Sportler auf der Olympischen Bühne im Rampenlicht stehen? "Naja", mag der ein oder andere sagen, "die hatten ja keine Wahl." Das mag sein. Doch ändert das nichts daran, dass russischen Sportlern in Paris 2024 genau diese Rolle zukommen würde.
Sie würden als sportliche Propagandawerkzeuge für Russlands Krieg nach Frankreich fliegen. Während im russischen Staatsfernsehen offen über die totale Vernichtung der Ukraine oder Raketenangriffe auf Frankreich und Deutschland debattiert wird und auf russischem Militärgerät in Großbuchstaben "NACH BERLIN" geschrieben steht, will Thomas Bach russische Sportler bei den Olympischen Spielen begrüßen. Unter neutraler Flagge zwar, doch ihren Pass würden sie nicht abgeben. Dem Propaganda-Erfolg des Kremls würde das deshalb keinen Abbruch tun.
Russische Sportsoldaten als Olympiasieger? Das wäre Zynismus pur
Dazu kommt, dass der Beruf des Sportsoldaten in Russland genauso akzeptiert ist wie in vielen anderen Sportnationen dieser Welt. Sollte der Goldmedaillengewinner von Tokio, Maxim Chramzow, auch 2024 wieder um die Taekwondo-Krone kämpfen dürfen, dann stünde ein Mitglied der russischen Armee auf der Matte. Chramzow ist Sportsoldat, genauso wie seine Taekwondo-Kollegen, der Bronzemedaillengewinner Michael Artamonow, Goldmedaillengewinner Wladislaw Larin oder Silbermedaillengewinnerin Tatjana Minina. Auch Weitspringer Alexander Menkow, Tokio-Gold-Fechterin Adelina Sagidullina und viele mehr sind von Beruf russische Soldaten. Ihre Kameraden bomben derzeit ihr Nachbarland in Schutt und Asche. IOC-Präsident Bach sorgt sich derweil um Diskriminierung von russischen Athleten. An Zynismus ist das nicht zu überbieten.
Russland zeichnet Sportler mit militärischen Orden aus
Der Sport sei unpolitisch, das betont Bach immer wieder. Das ist natürlich grober Unfug. Dass Sport für autokratische Länder wie Russland ein politisches Mittel zur Selbstdarstellung ist und Putin seine Sportler als Propaganda-Krieger missbraucht, beweist auch eine Reihe von Auszeichnungen aus dem August 2021. Insgesamt 40 russische Sportler erhielten für ihre Leistungen bei den Olympischen Spielen von Tokio militärische Würden für ihren "wichtigen Beitrag zur Stärkung des Ansehens der russischen Armee" - verliehen von Verteidigungsminister Sergej Schoigu höchstselbst.
14 russischen Olympiateilnehmern wurde damals die Medaille "Für die Festigung der Waffenbrüderschaft" vom Verteidigungsministerium verliehen. Ein ehemals sowjetischer Orden für Menschen, die sich um die Waffenbrüderschaftsbeziehungen in Armeen und Flotten der sozialistischen Länder verdient gemacht hatten. Martialischer geht es kaum. Nur zur Erinnerung: Auch in Tokio liefen die russischen Sportler wegen des Doping-Skandals unter neutraler Flagge auf. Zuhause wurden sie dennoch als Landsmänner und -frauen gefeiert - sogar mit Militärmedaillen. Thomas Bachs "unpolitischer Sport" als Waffe also. Neu ist das nicht, überraschen sollte das niemanden.
Das IOC würde alle olympischen Werte verraten
Und doch scheint das Internationale Olympische Komitee (IOC) nur allzu bereit, über diese Fakten hinwegzusehen. Sollte das IOC russische und belarussische Sportler tatsächlich in Paris willkommen heißen, dann würde es zulassen, dass Russland seinen Krieg auch in die Sportwelt trägt. Mit allen dazugehörigen Konsequenzen. Thomas Bach ist derzeit im Begriff, sich vollkommen von den olympischen Werten zu verabschieden. Ich frage mich, ob ihm das klar ist.
Invasion in die Ukraine | Meinung Krieg in der Ukraine: Wenn der Sport sich nicht positioniert, dann ist er wertlos
Die russische Invasion in die Ukraine stellt auch den Profi-Sport vor elementare Fragen. Wie umgehen mit Putins Russland? SWR-Reporter Pirmin Styrnol hat die Ukraine mehrfach bereist und findet: Wenn der Profi-Sport nicht klar Position bezieht, dann ist er wertlos.
Dass russische und belarussische Sportler nicht an internationalen Veranstaltungen teilnehmen dürfen, ist für mich die einzig richtige Konsequenz aus der großflächigen russischen Invasion im Jahr 2022. Der Gedanke, einen russischen Sportler, vielleicht sogar einen Sportsoldaten, unter den fünf Ringen stehen zu sehen, wo er die "neutrale“ Tschaikowski-Hymne genießen darf, ist für mich unerträglich. Und es dürfte jedem genauso gehen, der die Grauen des russischen Krieges selbst gesehen hat. IOC-Präsident Bach hat sie nicht gesehen. Der Einladung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist er bisher nicht nachgekommen. Er sollte sie annehmen. Vielleicht würde sich seine Haltung dann ändern. Ich würde es mir wünschen.