Theory of Mind

Können sich Menschenaffen in die Gedanken anderer hineinversetzen?

Stand
Autor/in
Justin Schmidt
Onlinefassung
Lilly Zerbst
Portraitbild der Reporterin Lilly Zerbst.

Theory of Mind ist die Fähigkeit zu verstehen, dass andere Wesen Gedanken und Gefühle haben. Doch der Mensch könnte mit dieser Fähigkeit allein sein, so eine neue Studie aus Deutschland und England.

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Die Kognitionsforschung liefert Antworten darauf, wie wir Informationen wahrnehmen und verarbeiten. Genau das zeigen jetzt auch Forschende in einer neuen Studie, indem sie die Theory of Mind von Kindern und Menschenaffen vergleichen. Theory of Mind ist die Fähigkeit zu verstehen, dass andere Wesen Emotionen, Gedanken und Wünsche haben, die sich von den eigenen unterscheiden.

Kinder und Menschenaffen messen sich im direkten Vergleich

Können Tiere das auch? Diese Frage steht im Mittelpunkt wissenschaftlicher Debatten. Jetzt haben Forschende der Universität Portsmouth und dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI) in Leipzig in einer Experimentalstudie bestätigt, dass es sich bei Theory of Mind um eine spezifisch menschliche Eigenschaft handeln könnte. Am MPI in Leipzig wurden die Fähigkeiten von Kindern aus verschiedenen Kulturen erforscht und mit ihren nicht-menschlichen Verwandten, den Menschenaffen, verglichen. 

Menschenaffen und Menschen haben einiges gemeinsam. Teilen sie aber auch die Fähigkeit der Theory of Mind? Ein Kind zieht vor einem Spiegel Grimassen, ähnlich wie ein Menschenaffe.
Menschenaffen und Menschen haben einiges gemeinsam. Teilen sie aber auch die Fähigkeit der Theory of Mind?

Für ihre Studie wählten die Forschenden 71 Kinder aus drei verschiedenen Ländern aus - Samoa, Namibia und Deutschland. Gleichzeitig wurden 25 Menschenaffen getestet. Darunter waren Bonobos, Schimpansen, Orang-Utans und Gorillas - also die nächsten lebenden Verwandten des Menschen.

Die Fähigkeit zu Sprechen, spielte beim Experiment keine Rolle. Stattdessen wurde nur mit leicht verständlichen Gesten gearbeitet. Das sollte sicherstellen, dass Menschenaffen und Kinder die gleiche Aufgabe bewältigen können. So ließen sich Kinder und Menschenaffen direkt vergleichen, erklärt Mitautor Daniel Haun gegenüber dem SWR:

"Dieser Kontrast ist spannend für uns. Wir arbeiten viel im direkten Vergleich zwischen Menschen und anderen großen Menschenaffen, um diesen unmittelbaren Kontrast herstellen zu können."

Menschenaffen scheitern am entscheidenden Test

Die Forscher entwickelten einen Test, bei dem Kinder und Menschenaffen die Empfindungen von Erwachsenen deuten sollten. Die Aufgabe bestand darin, deren Präferenzen für bestimmte Nahrungsmittel zu erkennen und zu berücksichtigen. Erwachsene sollten ihre Vorlieben für drei Lebensmittel, wie zum Beispiel Schokolade oder getrocknete Tomaten durch ablehnende oder interessierte Gesichtsausdrücke oder Geräusche wie "Mmmh" anzeigen. Die Kinder und Affen sollten diese Vorliebe wahrnehmen und entsprechend handeln.

Nachdem sie ihre Vorliebe ausgedrückt haben, wählten die Erwachsenen hinter einem Vorhang ihr Lieblingslebensmittel aus. Weil das Essen unter Bechern versteckt war, konnten die Kinder und die Affen bei nun wieder geöffnetem Vorhang nicht sehen, welchen Snack der Erwachsene ausgewählt hatte.

Wenn es aber verstanden hatte, welche Vorliebe der Erwachsene hatte, dann konnte das Kind erahnen was übrig sein musste und konnte den bevorzugten Snack nehmen. Interessanterweise zeigten alle Kinder, unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund, eine ähnliche Reaktion auf die gezeigten Vorlieben der Erwachsenen.

In einer Studie zur Theory of Mind haben Forschende die Fähigkeiten von Menschenaffen und Kindern im direkten Vergleich gemessen. Der Menschenaffe saß dabei einem Erwachsenen gegenüber, der seine Vorliebe zu Schokolade oder Tomaten zeigte.
In der Experimentalstudie zur Theory of Mind saß entweder ein Menschenaffe oder ein Kind einem Erwachsenen (gelbes Shirt) gegenüber, der seine Vorliebe zu bestimmten Lebensmitteln zeigte. Außerdem gab es einen Experimentator (orangenes Shirt).

Im Gegensatz zu den Menschenkindern zeigten die Primaten keine vergleichbare Fähigkeit zur Erfassung oder Interpretation von Vorlieben. Die Kinder scheinen also die Theory of Mind entwickelt zu haben, egal in welcher Lebenswelt sie sich befinden. Die Fähigkeit zur Perspektivübernahme ist eine, die in erwachsenen Menschenaffen, also in Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans in der Form nicht gefunden wurde. 

Die Ergebnisse deuten also darauf hin, dass die Entwicklung der Theory of Mind bei Menschen eine einzigartige und spezifisch menschliche Eigenschaft sein könnte.

Theory of Mind hat evolutionären Vorteil 

Die Fähigkeit, sich in jemanden hineinzuversetzen, ist schon Jahrtausende alt und tief im menschlichen Wesen verankert. Sich in andere einzudenken und zu wissen, dass das Gegenüber auch denkt und fühlt, war evolutionär vorteilhaft. Denn unsere Urahnen mussten schnell erkennen, ob vom Gegenüber eine Bedrohung ausgeht und sie die Flucht antreten sollten. Eine aufmerksame Wahrnehmung der anderen Lebewesen in der Umgebung entschied daher oftmals über Leben und Tod. 

Auch für die Bildung von sozialen Gruppen war diese Fähigkeit ausschlaggebend. Wie weit das Eindenken in das Gegenüber dann geht, unterscheidet sich aber wohl doch von Art zu Art. Gründe für die Einzigartigkeit unter den Menschen könnten komplexere Hirnstrukturen sein. Aber auch die entwickelte sprachliche und soziale Komplexität, mit denen der Mensch spricht, und in denen er lebt.  

Universelle Fähigkeit trotz kultureller Unterschiede 

Besonders bemerkenswert ist, dass die im Januar 2024 veröffentlichte Studie Kinder aus kulturell unterschiedlichen Lebenswelten einbezieht - sowohl aus Deutschland und Namibia wie auch aus Samoa, wo bestimmte kulturelle Ansichten oder kulturelle Vorlieben nicht öffentlich diskutiert werden.

Wie viel öffentlich über Gefühle und Gedanken gesprochen wird, kann sich von Kultur zu Kultur unterscheiden.
Wie viel öffentlich über Gefühle und Gedanken gesprochen wird, kann sich von Kultur zu Kultur unterscheiden.

In Samoa zum Beispiel sei es nicht Teil des öffentlichen Diskurses, die Mitmenschen zu fragen, wie sie sich fühlen oder was sie denken, so Haun. Daher vermutet der Forscher, dass samoanische Kinder womöglich weniger Input über den mentalen Zustand ihrer Mitmenschen bekommen als Kinder aus anderen Kulturen. Trotz dieser Unterschiede zeigten aber alle Kinder eine bemerkenswerte Einheitlichkeit in ihrer Fähigkeit zur Theory of Mind.

Das Besondere am menschlichen Geist 

Die Studie wirft ein neues Licht auf die Evolution der sozialen Kognition und stärkt die Hypothese, dass die Theory of Mind eine einzigartig menschliche Fähigkeit ist. Ganz eindeutig lässt sich aber nicht sagen, in welchem Ausmaß der Perspektivwechsel eine rein menschliche Eigenschaft ist, da Ausläufer der Theory of Mind zum Beispiel auch bei Rabenvögeln festgestellt wurden. So können sie sich beispielsweise in die visuelle Sicht eines anderen Raben versetzen. 

Professor Haun und sein Team am MPI versuchen aber weiter zu beschreiben, was den Menschen eigentlich im Kern ausmacht. Sie suchen dabei weiter nach den Eigenschaften, die alle Menschen haben, Tiere aber nicht. Die Studie könnte nicht nur unser Verständnis von den menschlichen kognitiven Fähigkeiten vertiefen, sondern auch ein weiteres Puzzleteil darüber liefern, was den menschlichen Geist so einzigartig macht.  

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