Auf 760 Metern über dem Meeresspiegel befindet sich die Quelle der Wiesaz. Das Wasser, das hier an die Oberfläche tritt, hat bereits eine faszinierende Reise hinter sich gebracht, seitdem es als Regentropfen auf die Schwäbische Alb gefallen ist. Doch was geschieht in der Wiesaz? Um die Vorgänge im Bach zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Alb. Im Erdzeitalter Jura – vor 199 bis 146 Millionen Jahren – liegt die Region im ufernahen Flachwasser des Tethysmeeres. Über 53 Millionen Jahre lang wachsen riesige Korallenriffe, deren Kalkgerüste und andere Sedimente sich immer weiter auftürmen. Durch ihr Eigengewicht verdichten sie sich und verwandeln sich in ein Kalkstein-Massiv. Tektonische Prozesse im Zuge der Alpenauffaltung heben den Untergrund – die Schwäbische Alb entsteht. Seither ist sie der Erosion von Wind und Wasser schutzlos ausgeliefert.
Gesteinsbildung im Zeitraffer
Regenwasser (H₂O) und Kohlendioxid (CO₂) aus der Atmosphäre und dem sauren Waldboden reagieren zu Kohlensäure (H₂CO₃). Sie versickert im porösen Kalkstein (CaCO₃) und löst Calcium (Ca2+) aus ihm heraus, bis die Lösung gesättigt ist. Tonnen gelösten Kalks werden mit dem Wasser in Bäche und Flüsse gespült. Die Mischung aus Calcium, Kohlensäure und Wasser – Calciumhydrogencarbonat (Ca(HCO₃)₂) genannt – ist aber nur so lange im Gleichgewicht, wie die Umgebungsbedingungen gleich bleiben. Verändern sie sich, zerfällt die Lösung in ihre Bestandteile. Und das passiert in der Wiesaz auf zwei unterschiedliche Weisen: Durch die Erwärmung des kalten Wassers in den Sommermonaten verdampft die Kohlensäure, was jeder kennt, der nach einem langen Schwimmbadtag die aufgeheizte Sprudelflasche ansetzt. Durch die Mithilfe von Pflanzen wie Moosen, Gräsern und Algen wird der Prozess potenziert. Bei der Photosynthese "saugen" sie ein Vielfaches an CO₂ aus der Lösung. Dadurch wird der gelöste Kalk sofort wieder fest und haftet an den Pflanzen und ihrer Umgebung an. Bei dieser sogenannten organisch induzierten Ausfällung "wächst" die Kalk-Kruste bis zu zwei Zentimeter im Jahr. Dabei entsteht ein sehr leichtes Gestein mit zahllosen Hohlräumen – der Kalktuff. Die Struktur der Pflanzen verleiht ihm Stabilität, die auch nach ihrem Absterben und der Zersetzung erhalten bleibt.
Die fünf Barren von Gönningen
Am Oberlauf der Wiesaz entsteht Kalktuff an fünf natürlichen Stufen – sogenannten Barren – mit einer Mächtigkeit von bis zu 14 Metern. Spätestens seit dem Bau der Gönninger Burg im 11. Jahrhundert wird er als Baumaterial verwendet. Im feuchten Zustand lässt er sich leicht sägen und in Form bringen. Nach dem Trocknen ist er stabil, feuer- und witterungsbeständig, was Mauersteine am unteren Tor des Schloss Hohentübingen aus dem Jahr 1606 eindrucksvoll belegen. Mit der Gründung der Gönninger Tuffsteinwerke im Jahr 1912 leitet Wilhelm Schwarz den Übergang zur industriellen Nutzung ein. In dieser Zeit wird der Kalktuff nicht nur im Südwesten verbaut, sondern beispielsweise auch beim Bau des Olympiastadions 1936 in Berlin oder als Fassadensteine des Jüdischen Museums in München.
Dazu werden bis zu vier Kubikmeter große Blöcke mit Motor-Schwertsägen aus dem Fels geschnitten und in den Werkshallen mit Gattersägen – wie in einem Holzsägewerk – auf das passende Plattenmaß gebracht und nach Bedarf poliert. Neben den Gönninger Kalktuffbarren gibt es auf der Schwäbischen Alb noch zahlreiche weitere Lagerstätten. Die größte Barre der Alb liegt an der Echaz-Quelle bei Honau. Sie ist 24 Meter mächtig und erstreckt sich über 900 auf 400 Meter.
Mit der Schließung der Gönninger Tuffsteinwerke im Jahr 1975 beginnt die Stadt Reutlingen ein Renaturierungsprojekt. Ein fünf Kilometer langer Tufflehrpfad führt heute entlang der gefluteten Steinbrüche durch das entstandene Naturschutzgebiet.