Übergewicht

Neuer Vorschlag zur Diagnose von Adipositas

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Autor/in
Nina Kunze
Nina Kunze ist Reporterin und Redakteurin bei SWR Wissen aktuell
Onlinefassung
Leila Boucheligua

Seit langem ist der BMI (Body-Mass-Index) zur Diagnose von Übergewicht ausschlaggebend. Eine internationale Kommission definiert nun neu, ab wann Übergewicht als Krankheit zählt.

Grafik Waage und Stethoskop

Neuer Vorschlag zur Diagnose von Übergewicht in Ergänzung zum BMI

Seit Jahrzehnten steht in den Leitlinien zur Diagnose von Übergewicht vor allem eine Zahl im Vordergrund, der Body-Mass-Index – kurz BMI. Er errechnet sich aus Körpergröße und Gewicht. Rund ein Viertel der Deutschen hat einen BMI von über 30 und gilt damit als stark übergewichtig oder adipös.

Doch schon lange gibt es Kritik, dass der BMI allein kein gutes Maß für Übergewicht ist. Eine internationale Kommission aus mehr als 50 Expertinnen und Experten will das bisherige Diagnoseverfahren nun ändern und damit auch eine Antwort auf die Frage geben, ab wann Übergewicht als Krankheit zählt.

Ihre Empfehlungen veröffentlichten sie in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet.

So definiert die Kommission Übergewicht als klinische Adipositas

Um Übergewicht festzustellen, schlagen die Expertinnen und Experten vor, unabhängig vom BMI den Körperfettanteil zu bestimmen oder den Körper direkt zu vermessen. So kann etwa der Umfang der Taille gemessen und zusätzlich entweder mit dem Hüftumfang oder der Körpergröße ins Verhältnis gesetzt werden.

Zwei solcher Messungen würden ausreichen, um Übergewicht festzustellen, alternativ könne auch zusätzlich zum BMI eine solche Messung erfolgen. 

Außerdem empfiehlt die Kommission, die Behandlung übergewichtiger Menschen stärker auf ihre körperlichen Symptome abzustimmen. Wenn das Übergewicht bereits Auswirkungen auf die Organe oder auf alltägliche Aktivitäten habe oder der BMI über 40 liege, liege eine klinische Adipositas vor und eine Behandlung sei dringend nötig.

Liegt zwar überschüssiges Körperfett vor, aber keine damit verbundenen gesundheitlichen Probleme, spricht die Kommission von einer präklinischen Adipositas. Diesen Menschen empfiehlt sie lediglich vorbeugende Maßnahmen und den Gesundheitszustand weiter zu beobachten. 

Ein Experte hält die Einteilung für zu schwammig

Auch in Deutschland wird bereits auf diese körperlichen Symptome geschaut, wie der Ernährungsexperte Professor Hans Hauner weiß:

„Der BMI ist sozusagen nur der erste Hinweis, und dann muss man natürlich weiterschauen. Wie ist das Fettverteilungsmuster? Gibt es schon Begleit- oder Folgekrankheiten? Und da denkt man vor allem an Stoffwechselstörungen. Man denkt aber auch natürlich an Gelenkprobleme, Kniegelenk, Rückenschmerzen. Da muss man nachfragen, und vieles andere mehr, denn zu viel Körpergewicht belastet den ganzen Körper, den ganzen Organismus, fast alle Organe.“ 

Hände halten Falte eines Oberschenkels, tags: Diagnose Adipositas Übergewicht
Ein Vorschlag der internationalen Kommission aus Fachleuten: Übergewicht als Krankheit auch am Körperfettanteil fest machen.

Hans Hauner leitet das Institut für Ernährungsmedizin der TU München und hat die deutsche Leitlinie für die Behandlung von Adipositas bei Erwachsenen mit ausgearbeitet. Er ist skeptisch, was den praktischen Nutzen der neuen Vorschläge angeht. Die Kriterien seien nicht eindeutig genug, Komplikationen könnten übersehen und damit auch nicht behandelt werden: 

„Damit lässt man wirklich den Großteil der Leute der subjektiven Bewertung überlassen, das sind die Menschen mit BMI zwischen 30 und 40. Da schauen wir normalerweise nach: Was hat der für einen Stoffwechsel, gibt es da Störungen? Hat der vielleicht Gelenkprobleme? Kann er nachts nicht schlafen, weil er ein Schlafapnoe Syndrom hat? Und so weiter. Und wenn es da Hinweise gibt, bieten wir natürlich eine Behandlung an und entscheiden das im Einzelfall.“

Adipositas noch schwierig als Krankheit bei Kindern und Jugendlichen anzuerkennen

Anders sieht das jedoch in der Kinder- und Jugendmedizin aus. Laut dem Kinder-Diabetologen und Hormonspezialisten Professor Martin Wabitsch vom Uniklinikum Ulm ist es derzeit schwierig, Adipositas in jungem Alter überhaupt als Krankheit anzuerkennen.

Zumindest für Kinder und Jugendliche mit klinischer Adipositas könne die Neudefinition dazu beitragen, eine angemessene Therapie zu ermöglichen.

Ob sie nun tatsächlich eine Verbesserung bringen oder nicht: Zumindest rücken die neuen Empfehlungen das Thema Übergewicht weiter ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das bewertet auch der Ernährungsmediziner Hans Hauner positiv:

„Das war früher ein Schmuddelthema, sage ich jetzt mal. Ich bin ja seit 40 Jahren in dem Geschäft, da hat es die Menschen eigentlich nicht interessiert, auch die Medien nicht, das war eher unappetitlich, im wahrsten Sinne des Wortes. Und das hat sich Gott sei Dank die letzten Jahre geändert.“ 

Lieber anerkannte Therapiemaßnahmen als Wunderdiäten aus dem Internet

Hauner ist vor allem wichtig, Betroffene nicht allein zu lassen und dass Therapiemaßnahmen von den Krankenkassen erstattet werden. Zweifelhafte Wunderdiäten aus dem Internet könnten Betroffenen sogar schaden. 

„Es geht ja zunächst mal um Lebensstiländerung, (…) und da ist es oft schon ein wirklich messbarer Vorteil, wenn die Leute nur 5 Kilo abnehmen und das halten. Dann schützen sie sich da zum Beispiel zu 70% vor Diabetes und vor vielen anderen möglichen Folgekrankheiten. Und das ist etwas, was man heute schon erreichen kann, was wir eigentlich seit Jahren machen und womit viele gut klarkommen.“ 

Um das Gewicht zu halten, eignet sich regelmäßige Bewegung, am besten eine Kombination aus Krafttraining und Ausdauersport wie Schwimmen oder Joggen.  

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Leila Boucheligua