Wirkt ein Raum bedrückend oder freundlich? Das nehmen wir binnen Sekunden wahr. Die Gestaltung eines Raumes entscheidet darüber, ob wir uns wohl und sicher fühlen.
In der Psychiatrie seien die Patienten und Patientinnen "tendenziell noch empfindsamer für atmosphärische Veränderungen in der baulichen Umgebung", sagte Dr. Martin Voss, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie im Rahmen einer Fachtagung in Berlin.
Dies werde beim Bauen und Gestalten von psychiatrischen Einrichtungen bisher zu wenig berücksichtigt.
Atmosphäre lässt sich wie ein Therapeutikum einsetzen
Atmosphäre könne wie ein Therapeutikum wirken, erklärte Voss, der die "Soteria Berlin" im St. Hedwig-Krankenhaus ärztlich leitet. Dort werden Menschen in psychotischen Krisen stationär behandelt.
"Es gibt in der Psychiatrie zwei Studien", berichtete Voss, "die zeigen, dass tageslichthelle Räume die Aufenthaltsdauer bei depressiven Patienten signifikant verkürzen im Vergleich zu Patienten, die in demselben Krankenhaus auf derselben Station in dunklen Zimmern untergebracht waren."
Diese Studien sind zwei von vielen Arbeiten, die Effekte von Architektur auf Heilungsprozesse zeigen. Aber die Studienlage sei insofern schwierig, weil eine gebaute Umgebung unheimlich komplex sei und nachweisbare Effekte nicht so leicht zu erbringen seien, räumte Dr. Julia Kirch vom Architektenbüro Sander-Hofrichter in Ludwigshafen ein.
Statt von "Heeling Architecture" spricht sie lieber von unterstützender Architektur.
Architektur kann dabei helfen, Vorurteile gegenüber Patienten in der Psychiatrie abzubauen
Architektur kann Kirch zufolge auf verschiedene Arten unterstützen: Sie kann soziale Interaktion fördern, Orientierung bieten und auch zur Entstigmatisierung beitragen.
Ein Blick in die Geschichte der Psychiatrie zeige, "dass Architektur auch immer ein Ausdruck ist von Haltung. Also von Haltung: Wie stehe ich den Menschen gegenüber?"
Während im 17. Jahrhundert psychisch kranke Menschen verwahrt wurden, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen, hat es bis heute die Einwicklung gegeben, dass "wir diese Einrichtungen bewusst öffnen, um zu zeigen: Das ist ein Stück weit Normalität in der Gesellschaft", erklärte Kirch. Ausdruck dafür ist zum Beispiel ein einladendes Foyer, das an ein Hotel erinnert.
Die moderne Haltung hat beim Zentrum für seelische Gesundheit in Lörrach zum Beispiel zu einem Entwurf geführt, der die Verletzlichkeit der Menschen bewusst zeigt, und ihre Narben als gestalterisches Element aufnimmt – in Form einer goldenen Fuge oder goldenen Lichtleiste, die sich durch das Gebäude zieht. Was früher als Makel galt, erläuterte Kirch, werde heute zu einem Symbol für Stärke.
In der Psychiatrie muss Architektur besondere Bedürfnisse berücksichtigen
Psychiatrie-Patientinnen und -Patienten haben besonders ausgeprägte Bedürfnisse nach Schutz und Privatsphäre und reagieren oft übermäßig sensibel auf Umweltreize wie Gerüche oder Geräusche.
Gute Architektur sollte dies berücksichtigen und auf die erhöhte Vulnerabilität reagieren, sagte Kirch. Denn ein Zustand des Wohlbefindens erleichtere es Menschen, sich sozial zu verhalten.
Neben Licht sind Farben und Materialien wichtige Gestaltungselemente in der Psychiatrie, weil sie eine besondere therapeutische Atmosphäre schaffen und obendrein die Orientierung erleichtern können. Enge, verwinkelte Flure sollten genauso tabu sein wie verwirrende Hinweisschilder oder -zettel.
Spezielle psychische Zustände brauchen spezielle Räume in der Psychiatrie
In der Psychiatrie müssen Architektur und Design unterschiedliche psychische Zustände berücksichtigen: Jemand in einer manischen Phase braucht zum Beispiel Reizschutz, Entspannung und behutsame Interaktion, während ein schwer depressiver Patient Aktivierung, viel Interaktion und Stimmungsaufhellung benötigt.
Eine weitere Besonderheit sind Zwischenräume als Übergang zwischen draußen und drinnen. Das kann zum Beispiel eine Sitzecke oder eine Bank im Flur sein.
"Da sitzt eigentlich immer irgendjemand und guckt einfach, was so los ist", berichtete Voss über die "Soteria Berlin". Das Ziel solcher Zwischenräume ist es, jene Interaktion und Gemeinschaft zu fördern, die für die Therapie wichtig sind.
Auch das Vermeiden von Suiziden ist ein wichtiger Aspekt in der Psychiatrie-Gestaltung. Zum Beispiel müssen die Kleiderhaken im Badezimmer ab einem gewissen Gewicht nachgeben, um ein Erhängen unmöglich zu machen, und giftige Pflanzen darf es weder im Haus noch in den Außenanlagen geben.
Alle Nutzenden sollten in die Planung der Architektur einbezogen sein
Bei der Planung psychiatrischer Gebäude und Räume geht es aber nicht nur um die Bedürfnisse von Patentinnen und Patienten. Diese müssen in Einklang gebracht werden mit den Bedürfnissen der verschiedener Personalgruppen, aber auch mit den Bedürfnissen der Angehörigen von Patienten.
"Wir brauchen Orte, an denen bestimmte Dinge möglich sind", sagte Voss. "Der Korridor ist kein guter Ort zum Weinen. Und man kein privates Gespräch führen, wenn nebenan volle Kanne der Fernseher dröhnt."
Alle Nutzenden sollten von Anfang an in die Planung einbezogen sein, erläuterte Architektin Kirch. Nur so könne eine Architektur gelingen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen in der Psychiatrie gerecht werde.