Keyvisual der „Vollbild“-Doku „Albtraum Ferienlager – Wie gefährlich sind Kinder und Jugendreisen?" zeigt die Vollbild-Reporterin im Vordergrund, im Hintergrund Kinder am Lagerfeuer vor einem roten Zelt

Investigative Recherche

Mangelhafter Kinder- und Jugendschutz in Ferienlagern

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Claudia Lemcke

Großer kommerzieller Anbieter prüft und schult Betreuende schlecht / Neue „Vollbild“-Recherche „Albtraum Ferienlager? Wie gefährlich sind Kinder- und Jugendreisen“ ab Dienstag, 13. August 2024 in der ARD Mediathek

Mainz/Berlin. In Ferienlagern kommt es offenbar immer wieder zu Alkohol- und Drogenmissbrauch, sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sowie überforderten Betreuer:innen. Dies zeigen Recherchen des SWR Investigativformats „Vollbild“. Außerdem werden Betreuende in Ferienlagern teilweise nur unzureichend geschult. Einer der größten kommerziellen Anbieter von Kinder- und Jugendreisen in Deutschland, Jugendtours Jugendreisen, verlangt von seinen Betreuer:innen weder einen Erste-Hilfe-Kurs noch ein erweitertes Führungszeugnis. Die „Vollbild“-Doku „Albtraum Ferienlager? Wie gefährlich sind Kinder- und Jugendreisen?“ ist ab Dienstag, 13. August 2024, 5 Uhr in der ARD Mediathek abrufbar.

Kinder und Jugendliche werden in Ferienlagern nicht immer gut betreut. Alkohol und Drogen sind bei Jugendreisen offenbar immer wieder präsent. Das erzählen ehemalige Teilnehmerinnen und ein ehemaliger Betreuer im Interview mit „Vollbild“. Bewertungen großer Anbieter auf Online-Plattformen stützen dies. Kommerzielle Anbieter von Ferienlagern legen zudem nach „Vollbild“-Recherchen teilweise zu wenig Wert auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch.

Sexueller Missbrauch durch Betreuer

Eine junge Frau berichtet im Interview, dass sie als Kind im Ferienlager sexuell missbraucht wurde. Hilfe von anderen Betreuerinnen und Betreuern habe sie nicht erhalten. „Die anderen Betreuer wussten alle davon, da bin ich mir ziemlich sicher“, sagt sie, denn es sei offensichtlich, „wenn ich nicht mit den anderen Kindern zusammen schlafe, sondern bei ihm. Aber es hat niemand was dazu gesagt.“ Der Betreuer hat sich an ihr über mehrere Jahre sexuell vergangen. Nach Jahren des Albtraums hat sich das Mädchen schließlich seinen Eltern gegenüber geöffnet. Der Täter wurde angezeigt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Erweitertes Führungszeugnis sollte Mindestanforderung sein

Ein erweitertes Führungszeugnis kann verhindern, dass vorbestrafte Sexualstraftäter:innen als Betreuer:innen Zugriff auf Kinder und Jugendliche bekommen. Die Beantragung ist für ehrenamtliche Tätigkeiten in der Regel kostenlos. Expert:innen bezeichnen die Vorlage als Mindestanforderung für jegliche Arbeit mit Kontakt zu Kindern und Jugendlichen. Einer der größten kommerziellen Anbieter von Kinder- und Jugendreisen in Deutschland, Jugendtours Jugendreisen, verlangt nach „Vollbild“-Recherchen von seinen Betreuenden kein solches erweitertes polizeiliches Führungszeugnis. Es könnte also eine für eine Sexualstraftat verurteilte Person als Betreuer:in mitfahren – Jugendtours würde es möglicherweise nicht bemerken. Der Anwalt von Jugendtours teilte mit, dass keine gesetzliche Pflicht bestehe, ein erweitertes Führungszeugnis zu verlangen. Außerdem biete dieses „keinerlei Sicherheit“, da laufende Verfahren nicht einflössen. Auch frühere Straftaten seien darin nicht vollumfänglich ersichtlich.

Online-Schulung statt praktischer Ausbildung

„Vollbild“-Recherchen zeigen, wie einfach es ist, als Betreuer im Kinderferienlager zu arbeiten: Ein Reporter hat sich undercover im Ferienlager beim Anbieter Jugendtours Jugendreisen beworben. Um dort arbeiten zu können, musste er lediglich eine fünfstündige Online-Schulung absolvieren. Durch den Abschlusstest, dessen Bestehen Jugendtours auf seiner Webseite zur Bedingung macht, fiel er absichtlich durch. Bei einer Nachschulung musste der Lockvogel lediglich eine Frage richtig beantworten: Was zu beachten sei, wenn man mit Kindern einen Ausflug macht? Die richtige Antwort: Darauf zu achten, dass alle vorher noch einmal auf die Toilette gehen. Anschließend durfte er eine Woche lang im Ferienlager sechs- bis zwölfjährige Kinder betreuen.

Die Schulung sei nicht ausreichend, kritisiert Dennis Peinze, Geschäftsführer des BundesForum Kinder- und Jugendreisen e.V.: „In der Regel spricht man von zwei Wochenenden oder einer kompletten Woche, die so eine Schulung umfassen sollte, um dann tatsächlich auch das notwendige Handwerkszeug als Betreuerin oder Betreuer zu haben.“ Einen praktischen Erste-Hilfe-Kurs musste der Lockvogel ebenfalls nicht absolviert haben, um als Betreuer mit ins Ferienlager fahren zu können. Der Anwalt von Jugendtours teilt mit, „dass der Reporter die Prüfung schlussendlich bestanden hat“. Außerdem verweist er darauf, dass die Teilnehmer:innen neben der Online-Schulung auch „entsprechendes Informationsmaterial, welches Bestandteil der vertraglichen Bindung und zwingend von den Betreuern zur Kenntnis zu nehmen ist bzw. durchgearbeitet werden soll“, erhielten. Zudem hätten alle Reiseleiter eine aktuelle Ersthelferausbildung.

Der Reporter erlebte während seiner einwöchigen Undercover-Recherche überforderte Betreuerinnen und eine Reiseleiterin, die zweitweise nicht greifbar war, da sie beispielsweise ihren Partner zum Bahnhof brachte. Dass der Freund der Reiseleiterin vor Ort war, sei mit Jugendtours abgesprochen gewesen, so der Anwalt des Anbieters.

Bundesfamilienministerium sieht keinen Handlungsbedarf

Während Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe einer Kontrolle unterliegen, existiert diese für kommerzielle Anbieter nicht. Dies kritisiert die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Enders. Sie ist im Vorstand des Vereins Zartbitter e. V. und betreut seit Jahrzehnten Opfer von sexuellem Missbrauch. „Kommerzielle Anbieter unterliegen keiner fachlichen Aufsicht, keinerlei Sanktionsmöglichkeiten. Jede Pommesbude wird vom Gesundheitsamt kontrolliert, aber jeder darf mit Kindern arbeiten, ob er qualifiziert ist oder nicht.“ Kommerzielle Anbieter drohten, aufgrund der fehlenden Kontrolle zu einem „Täterparadies“ zu werden. Während Expertinnen und Experten fordern, dass kommerzielle Anbieter von Kinder- und Jugendfreizeiten einer Aufsicht unterliegen sollten, sieht das Bundesfamilienministerium auf Anfrage keinen Handlungsbedarf.

„Vollbild: Albtraum Ferienlager“ ab Dienstag, 13. August 2024, 5 Uhr

Die ganze Recherche ist ab Dienstag, 13.8.2024 in der ARD Mediathek unter https://1.ard.de/Vollbild_ferienlager?pm abrufbar.

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Ursula Enders trägt eine auffällige blaue runde Brille, die Leiterin der Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen Zartbitter e. V. Köln steht vor einer Wand mit Kinderzeichnungen.
Ursula Enders, Leiterin der Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen Zartbitter e. V. Köln: „Ein sehr großes Problem ist, dass die kommerziellen Anbieter keine Verpflichtung zum Kinderschutz haben. Die können machen, was sie wollen. Jede Pommesbude wird vom Gesundheitsamt kontrolliert, aber jeder darf mit Kindern arbeiten, ob er qualifiziert ist oder nicht.“ Bild in Detailansicht öffnen
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