Bis heute hat die Frage nach dem gerechten Lohn nicht an Brisanz verloren: Trotz Mindestlohn können viele Deutsche von ihrem Einkommen kaum leben, Millionen Menschen müssen „aufstocken“, Hartz IV beziehen. Auch wenn quer durch die Parteien – und durch die Corona-Krise verstärkt – längst Einstimmigkeit darüber herrscht, gesellschaftlich relevante Tätigkeiten wie Alten- oder Krankenpflege besser zu bezahlen, bleibt es bei der traditionellen Lohnverteilung: Eine Steuerberaterin verdient ein Vielfaches dessen, was ein Pfleger bekommt, DAX-Manager ein Hundertfaches ihrer Mitarbeiter. Warum ist das so? Nach welchen Regeln wird entschieden, wer wie viel verdient?
In der sozialen Marktwirtschaft garantiert der Staat jedem Bürger ein Existenzminimum. Ansonsten hält er sich raus. Löhne entstehen durch Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, so zumindest die Theorie, aber auch durch Prozesse am Markt. Unter anderem spielt der Faktor Knappheit eine Rolle.
Bezahlung hat nur bedingt mit Leistung zu tun
Das heißt: Bezahlung hat nur bedingt mit Leistung zu tun. Mitentscheidend ist die Nachfrage. Das zeigt sich besonders eindrücklich in der Pflege: Dort steigen die Löhne wegen der immensen Nachfrage nach Pflegekräften seit 2018 langsam an, allerdings ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau. Solche Markt-Mechanismen haben auf die Lohnhöhe einen großen Einfluss, aber sie erklären längst nicht alles. Viele andere Faktoren spielen mit hinein: Hierarchie. Verantwortung. Regionale Unterschiede. Mann oder Frau. Migrant oder Nicht-Migrant. Traditionen. Sympathien. Verhandlungsgeschick.
Zudem ist die Lohnhöhe in Deutschland historisch mit dem Einfluss der Gewerkschaften auf männlich geprägte Branchen zu erklären. Die Gewerkschaften haben – ausgehend vom Modell, dass der Mann eine ganze Familie ernähren muss – hohe Löhne in der Industrie ausgehandelt. Klassische Frauenberufe wie Kranken- oder Altenpflegerin werden immer noch so bezahlt, als wären sie nur ein Zubrot – obwohl sie das schon lange nicht mehr sind. Diese Jobs sind sogar unentbehrlich für Staat und Gesellschaft, nämlich „systemrelevant“, hat die Corona-Krise klar gemacht. Die Forderung nach gerechter Bezahlung fand auf einmal breite Unterstützung. Denn während die Pandemie die Wirtschaft größtenteils lahm legte, waren es gerade die schlecht bezahlten Beschäftigten, die das System weiter am Laufen hielten: Supermarkt-Kassiererinnen, Pflegekräfte, Paket-Zusteller. Doch mit der Rückkehr in den Alltag ist die Unterstützung für eine bessere Bezahlung schnell wieder abgeebbt. Die Frage, warum gerade soziale Berufe so wenig finanzielle Anerkennung bekommen, bleibt hingegen.
Streitfrage: Muss der Staat für mehr Lohngerechtigkeit sorgen?
Es ist eine umstrittene Frage, ob der Staat verpflichtet ist, bei der Lohnentwicklung mitzubestimmen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen? Oder liegt die Verantwortung bei der Wirtschaft? Moderat hat die Bundesregierung schon in die Lohnentwicklung eingegriffen: Seit 2015 gilt der gesetzliche Mindestlohn, derzeit liegt er bei 9 Euro 35 die Stunde.
2017 hat die Bundesregierung außerdem das sogenannte Entgelttransparenz-Gesetz auf den Weg gebracht, das vor allem Frauen mehr Gerechtigkeit am Arbeitsmarkt bringen soll: Sie können von ihrem Arbeitgeber nun Auskunft darüber verlangen, was Kollegen mit vergleichbarer Beschäftigung verdienen. In Anspruch genommen wird das bisher allerdings kaum.
Mindestlohn und Tarifverträge sind wichtige Instrumente
Für den Sozialwissenschaftler Stefan Sell reichen diese Bemühungen bei Weitem nicht aus. Als eines der wichtigsten Instrumente sieht er den gesetzlichen Mindestlohn. Tatsächlich hat der innerhalb kürzester Zeit gewirkt: Das Ungerechtigkeitsempfinden ist seither in den untersten Lohngruppen deutlich zurückgegangen, das zeigen Daten des soziökonomischen Panels. Auch ist der von den Arbeitgebern prognostizierte Jobabbau nicht eingetreten. In den nächsten zwei Jahren soll der Mindestlohn in mehreren Schritten um gut einen Euro steigen – auf dann 10 Euro 45. Aber selbst das sei noch viel zu niedrig, glaubt Stefan Sell. Der Mindestlohn müsste deutlich über 12 Euro liegen.
Ein Mindestlohn von 12 Euro? Aus Sicht der Arbeitgeber momentan undenkbar. Neben dem Mindestlohn gäbe es für den Staat aber noch eine andere Stellschraube: allgemeinverbindliche Tarifverträge – und zwar für die Branchen, die kaum mehr gewerkschaftlich organisiert sind. Dort wären die Arbeitgeber dann dazu verpflichtet, alle Beschäftigten nach Tarif zu bezahlen. Ganz generell sind Tarifverträge – auch ohne Einfluss des Staates – ein höchst effektives Mittel, um das Gerechtigkeitsempfinden zu steigern.
Beispiel Elobau: Unternehmen auf der Suche nach gerechtem Lohnmodell
Wie ermittelt und zahlt man eigentlich einen gerechten Lohn? Nach Beschwerden der Mitarbeiter über intransparente Bezahlung entwickelte die Firma Elobau. Das familiengeführte Unternehmen stellt Sensortechnik und Bediensysteme her, für den Maschinenbau und für Nutzfahrzeuge wie Traktoren oder Stapler. Ein typischer schwäbischer Zulieferer: Versteckt in der Provinz, aber weltweit erfolgreich. Rund 930 Beschäftigte arbeiten am Standort Leutkirch im Allgäu.
Gerechter Lohn in der Firma: ein langer Verhandlungsprozess
Das alte Akkordsystem, bei dem jeder Mitarbeiter nach Stückzahl entlohnt wird, passte nicht mehr zur modernen Produktion. Und ein weiteres Problem, so Personalchef Norbert Christlbauer: Jeder habe sein Gehalt einzeln mit dem Produktionsleiter verhandelt. Das Ergebnis: Intransparenz und Unmut.
Für die 850 Beschäftigten tüftelten 56 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein transparenteres Lohnmodell aus. Das dauerte 18 Monate. Für eine mittelständische Firma wie Elobau eine lange Zeit – aber das Ergebnis eine kleine interne Revolution.
Anfang 2017 trat in der Fertigung das neue, von den Beschäftigten selbst entwickelte Vergütungsmodell in Kraft. Der Stundenlohn ist abgeschafft, alle bekommen ein festes Basisgehalt. Wie hoch dieses Basisgehalt ausfällt, hängt von der Qualifikation, Erfahrung und der Aufgabe im Unternehmen ab. Zusätzlich können sich die Mitarbeiter bis zu zehn Prozent Aufschlag erarbeiten – über ein individuelles Punktesystem, das die Beschäftigten mit dem Produktionsleiter gemeinsam bewerten und das Kriterien wie Pünktlichkeit oder Umweltbewusstsein berücksichtigt. Zu guter Letzt gibt es eine Erfolgsprämie, die für den einfachen Beschäftigten genauso hoch ist wie für das Management.
Unterm Strich kein hochinnovatives Vergütungsmodell, meint Personalchef Norbert Christlbauer. Für das Unternehmen aber trotzdem ein großer Umbruch: Bei Elobau sind seit dem Lohn-Projekt alle per Du, Entscheidungen transparenter, das Klima offener.
Für die 56 Beteiligten bei Elobau war das Projekt ein Gewinn. Aber wie steht es um die anderen Beschäftigten in der Firma? Hat es auch ihnen wirklich mehr Gerechtigkeit gebracht? Bisher offenbar nicht allen. Bei der jüngsten Mitarbeiter-Befragung ist die Lohn-Zufriedenheit in einigen Bereichen sogar gesunken. Wirklich erklären kann sich Personalchef Christlbauer das nicht – wurde doch keiner mit der Lohnreform schlechter gestellt, im Gegenteil: Ein großer Teil der Belegschaft steht heute besser da. Aber noch befindet sich das neue Modell in der Übergangsphase: Einige Mitarbeiter rücken erst nach und nach zu den Besserverdienenden auf. Das heißt: Da ist noch Luft nach oben – möglicherweise ein Grund für die Lohn-Unzufriedenheit. Die Projektgruppe soll der Sache jetzt auf den Grund gehen. War die ganze Arbeit umsonst? Oder wird die kleine Revolution, an der sie beteiligt war, zumindest langfristig für mehr Gerechtigkeit sorgen?
SWR 2018/2020