Viele Arbeitsplätze hängen an Metall- und Elektroindustrie
"Ich muss!" sagen derzeit viele Firmenchefs in Baden-Württemberg, wenn sie ihren Mitarbeitenden die Kündigung vorlegen. Das Land steht vor einem gewaltigen Wandel. Währenddessen machen sich Insolvenzverwalter bereit.
Baden-Württemberg ist die Industrieregion Deutschlands. Kein anderes Bundesland hat so viel produzierendes Gewerbe. Mehr als ein Fünftel der gesamten deutschen industriellen Wertschöpfung kommt aus Baden-Württemberg. Zwei Drittel davon entfallen auf die stark vom Export abhängige Metall- und Elektroindustrie, an der auch die meisten Arbeitsplätze im Land hängen.
Baden-Württemberg: siebtgrößte Volkswirtschaft der EU
2018 war das rund elf Millionen Einwohner zählende Bundesland die siebtgrößte Volkswirtschaft der EU – mit einer Wirtschaftsleistung von 46.300 Euro pro Kopf. Eine enorme Summe. Die hohen Industriegehälter sorgten für allgemeinen Wohlstand. Dagegen war die Arbeitslosigkeit verschwindend gering: rund drei Prozent.
Das könnte sich ändern. Denn im vergangenen Jahr häuften sich die schlechten Nachrichten so sehr, dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann seine Neujahrsrede ausschließlich der Wirtschaft widmete. Der Landesvater erzählte von Begegnungen mit preisgekrönten Handwerkerinnen und Handwerkern, zupackenden Gründerinnen und Gründern und einem visionären Roboterforscher. Der Tenor seiner Rede: Alles wird gut.
Autoindustrie: Manipulation statt Investitionen in neue Mobilitätskonzepte
In Baden-Württemberg wurde im 19. Jahrhundert von der Textilindustrie ein ausdifferenziertes System entwickelt: Das Zusammenspiel von großen Herstellern und auf sie abgestimmten Zulieferern und Maschinenbauern ist bis heute einmalig auf der Welt.
An die Stelle der Textil- und Landwirtschaftsmaschinen ist nun allerdings das Auto getreten. Weil in diesem System alle Räder wie bei einer großen Maschine perfekt ineinandergreifen, ist es enorm effizient.
Diese Effizienz hat aber auch eine Kehrseite, sagt Jürgen Dispan, der beim Stuttgarter IMU-Institut Branchen- und Regionalanalysen macht. Denn weil alles so gut lief, gab es wenig Anlass, etwas zu ändern. Statt in neue Antriebe und zukunftsweisende Mobilitätskonzepte zu investieren, erfanden die Autokonzerne Systeme zur Abgasmanipulation. Nun muss sich alles sehr schnell ändern. Genau anderthalb Auto-Generationen haben die Autohersteller und ihre Zulieferer in Baden-Württemberg Zeit. Nicht viel, findet Florian Herrmann vom "Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation" in Stuttgart-Vaihingen, denn zukunftsfähige Produkte brauchen nicht nur neue Komponenten, sondern Kompetenzen und neues Wissen.
Arbeitsplätze in Gefahr: Elektromotoren erfordern weniger Komponenten
Dazu kommt die Digitalisierung. Um konkurrenzfähig zu bleiben, müssen die Unternehmen ihre Abläufe teilweise komplett umstellen. Das größte Problem ist jedoch noch ein anderes: Fahrzeuge mit Elektromotoren kommen mit deutlich weniger Komponenten aus als Fahrzeuge, die von Verbrennungsmotoren angetrieben werden. Zum Beispiel haben sie kein Getriebe und keine Abgasanlage. Das wirkt sich vor allem auf die Beschäftigungssituation aus.
Insolvenzverwalter eröffnen Dependancen in Baden-Württemberg
Fraunhofer-Experte Florian Herrmann geht davon aus, dass es vor allem die sogenannten Lohnunternehmen im Antriebsstrang treffen wird. Das sind mittelständische und kleine Betriebe, die auf einzelne Teile spezialisiert sind. Beispielsweise Zahnräder und Dichtungen, die sie in hoher Präzision und großer Stückzahl produzieren. Für viele von ihnen bedeutet die Umstellung auf den Elektromotor das Aus, prognostiziert auch Jürgen Dispan des IMU-Institutes. Nicht sofort, aber in fünf bis zehn Jahren.
Über diese Folgen spricht niemand gern. Ebenso wie darüber, dass die Möglichkeiten, andere Branchen zu erschließen, sehr begrenzt sind. Tatsächlich bringen sich die Insolvenzverwalter schon in Stellung und eröffnen Dependancen in Baden-Württemberg. Ganz offenbar rechnet man mit Verlierern.
Bosch setzt auf Lenksysteme – und auf Produktion in Ungarn
Bei Bosch AS in Schwäbisch Gmünd liegen die Dinge etwas anders. Das Unternehmen produziert Lenksysteme für Pkw und Lastwagen. Die sind vom Antriebsstrang unabhängig und passen genauso gut in ein Elektro- oder Wasserstoffauto. Bosch will Kosten sparen, um im härter werdenden Wettbewerb zu bestehen. Der hat sich auch deshalb verschärft, weil die Nachfrage aus China zurückgeht. Der Sparprozess belastet die Belegschaft schon länger, erzählt Betriebsratsvorsitzender Alessandro Lieb.
Trotz Verzicht der Belegschaft streicht Bosch weitere 1.000 Stellen
Um an neue Aufträge zu kommen, verzichtete die Belegschaft auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld und verschob Pausenzeiten. Außerdem stimmte der Betriebsrat zu, 760 Stellen abzuschmelzen. Vieles regelte sich über den Vorruhestand. Aber es mussten auch Leiharbeiter gehen und befristete Verträge liefen aus. Nun sollen 1.000 weitere Stellen wegfallen. Gleichzeitig baut Bosch das ungarische Werk für Lenksysteme aus. Dort liegen die Gehälter sehr viel niedriger als im Hochlohnland Baden-Württemberg mit seinen starken Gewerkschaften und Tarifverträgen.
Um bis zu 25 Prozent seien die Aufträge bei den Werkzeugmaschinenherstellern in Baden-Württemberg eingebrochen, sagt Jürgen Dispan, der Strukturexperte des IMU-Instituts. Die Landesregierung propagiert deshalb Künstliche Intelligenz, neue Mobilitätskonzepte und die Industrie 4.0. Das Ländle gegen das Valley. Der Wille, sich zu verändern sei da, versichert der Betriebsratsvorsitzende von Bosch Schwäbisch Gmünd, Alessandro Lieb. Sich verändern, damit Baden-Württemberg so erfolgreich bleibt, wie es ist. Ob das klappt, ist offen.