320.000 Virenarten allein bei Säugetieren
Viren sind keine Lebewesen und doch zahlreicher als alle lebenden Zellen. Sie kommen überall und in allen Organismen vor und existieren schon seit Anbeginn des Lebens. Bisher musste jeder Virustyp spezifisch bekämpft werden. Das gleicht bei 320.000 Virenarten allein in Säugetieren einer Sisyphos-Aufgabe.
Deshalb beschreitet eine Reihe von Forscherinnen und Forschern einen anderen Weg. Sie wollen Impfstoffe oder Wirkstoffe entwickeln, die sich nicht nur gegen ein einziges Virus richten, sondern gegen eine ganze Virusgruppe oder Virusfamilie.
Im Test: ein einziger Impfstoff gegen alle Influenza-Viren
Peter Palese von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York will einen Impfstoff entwickeln, der sich nicht gegen jene Bestandteile der Viren richtet, die sich durch Mutation ständig verändern, sondern gegen die, die bei allen Influenza-Viren immer gleich bleiben.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben damit eine Art künstlichen Antikörper geschaffen, der zumindest im Tierversuch mit Mäusen, Meerschweinchen und Frettchen vor sämtlichen Influenza-Viren gleichermaßen schützt. Der von Palese entwickelte Impfstoff ist sogar bereits in der ersten klinischen Phase – wird also an Menschen getestet.
Palese ist zwar zuversichtlich, doch anders als bei der Bekämpfung von Covid-19, wo im Moment international viele Mittel gebündelt werden und die Forschung ein extrem schnelles Tempo angenommen hat, geht die Influenza-Forschung in der normalen Geschwindigkeit weiter.
Bill Gates: 12 Millionen Dollar für den ersten universellen Grippe-Impfstoff
Bill Gates hat die Suche nach dem „Universellen Grippe-Impfstoff“ zu einer „Grand Challenge“ erklärt, einer großen Herausforderung, und 12 Millionen Dollar als Belohnung ausgesetzt. Er ist davon überzeugt, dass die nächste Pandemie eine Influenza-Pandemie sein wird.
Einen wichtigen Meilenstein hat SEEK geschafft, ein internationales Biotech-Unternehmen mit Hauptsitz in London. Sein universeller Influenza-Impfstoff „FLU-v“ richtet sich gegen vier Virusbestandteile, die normalerweise nicht mutieren. Bei SEEK darf das Virus die Zelle zwar infizieren, wird jedoch erkannt und bekämpft.
Im März 2020 hat Olga Pelguezuelos, Forschungsleiterin bei SEEK, mit ihrem Team erfolgreich die Phase II einer Doppelblind-Studie mit 175 gesunden Teilnehmenden absolviert. Jetzt muss eine weitere Runde mit 10.000 Teilnehmenden folgen. Sollte sich dieser Weg als erfolgreich herausstellen, könnte er sich möglicherweise auf andere Virusfamilien übertragen lassen.
Es könnte sich daraus eine neue Art entwickeln, wie die Menschheit Viren bekämpft: Nicht mehr spezifisch einen bestimmten Erreger, sondern ganze Familien oder Gruppen von Viren.
"Global Virome Project": durch weltweites Virenarchiv für Ernstfall gerüstet sein
Peter Daszak und Dennis Carroll erfahren seit Corona ein größeres Interesse an ihrer Forschung von Politik und Medien als in all den Jahren zuvor. Carroll und Daszak gehören zu den führenden Köpfen des 2018 gegründeten, weltumspannenden Global Virome Projects. Sie haben jahrelang vor einer neuen Pandemie gewarnt.
Das Global Virome Project soll eine globale Partnerschaft sein, die eine weltweit verfügbare Gendatenbank der gesammelten Viren zur Verfügung stellt, aber auch genaue Daten über ihre Verbreitung und ihre Ökologie. So entstehen regelrechte Virenkataloge, auf deren Basis im Falle eines Ausbruchs schnell der Übertragungsweg ermittelt und eine Therapie entwickelt werden kann.
Daszak und Carroll wollen für ihr Global Virome Project dieses Virenarchiv um ein Vielfaches erweitern und systematisieren. So soll die Welt auf die nächste Pandemie besser vorbereitet sein. Aber kann man für alle potenziell gefährlichen Virenarten prophylaktisch einen Impfstoff entwickeln?
Forschung: breiterer Immunschutz durch künstliches Neuraminidase-Enzym
Nicht einen Wirkstoff für potenziell gefährliche Virenarten entwickeln, sondern breiter wirkende Impfstoffe – das ist die Antwort von Bioinformatikerin Alice McHardy vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Anders als Palese setzt sie Verfahren der Bioinformatik ein, um ein sogenanntes Neuraminidase-Antigen zu entwickeln.
Neuraminidase ist eines der beiden charakteristischen Enzyme, die das Influenza-Virus benutzt, um sich zu vermehren: Hämagglutinin benötigt es, um in Zellen eindringen zu können, und Neuraminidase, um die neuen Viren wieder aus der Zelle auszuschleusen.
Als Teil eines Impfstoffs soll das künstliche Neuraminidase-Enzym das Immunsystem darauf trainieren, genau diesen Bestandteil des Virus, der sich weniger stark durch Mutation verändert als das Hämagglutinin, zu erkennen und zu bekämpfen. Das würde einen breiteren Immunschutz gewährleisten.
900 Forschungsgruppen arbeiten an Impfstoff gegen Covid-19
Und was ist mit dem Coronavirus, das die ganze Welt in tödlicher Umklammerung hält? Weltweit sind über 900 Forschungsgruppen damit befasst, einen Impfstoff gegen Covid-19 zu entwickeln, über 40 davon sind bereits in der klinischen Phase. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass im Laufe des Jahres 2021 ein sicherer Impfstoff zur Verfügung stehen wird. Es wird jedoch ein spezifischer Impfstoff sein, der nur vor Covid-19 schützt und nicht vor allen Erkrankungen aus der Corona-Virus-Familie.
Bundesregierung: keine Konsequenzen aus Pandemie-Simulation 2012 gezogen
Vor dem Hintergrund von SARS und MERS im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre ließ die Bundesregierung 2012 unter Federführung des Robert-Koch-Instituts das Worst-Case-Szenario für eine Pandemie in Deutschland simulieren. Der Name: "Modi-SARS“. In dieser Simulation verbreitet sich ein aus Asien eingeschlepptes Virus unkontrolliert in Deutschland und führt in der Spitze zu bis zu vier Millionen gleichzeitig Erkrankten. 7,5 Millionen Menschen sterben.
Der Bericht ist die Bundesdrucksache 17/12051 und stuft die Eintrittswahrscheinlichkeit als „bedingt wahrscheinlich“ ein – zu Deutsch: tritt einmal in 100 bis 1000 Jahren auf. Die Politik zog aus diesem Bericht keinerlei Konsequenzen.
Appell von Wissenschaftler*innen: Superwirkstoff endlich entwickeln
Ein ähnliches Problem sieht der amerikanische Virologe Dennis Carroll. Um auf eine Pandemie zu reagieren ist es nötig, alle internationalen Kräfte zu bündeln. Das sei in der aktuellen Covid-19-Krise nicht geschehen. Forscherinnen und Forscher fordern darum, dass sich Politik, Pharmaindustrie und Wissenschaft endlich gemeinsam dazu entscheiden, den Superwirkstoff zu entwickeln. Denn so viel ist sicher: Die nächste Pandemie wird kommen.