Ursprünge in der Antike
In der spätantiken Gnosis, die die Gotteserkenntnis auf dem Wege der philosophischen Spekulation zu erlangen strebt, gibt es eine Lesart, die sich mit der deutschen Übersetzung des Wortes "Entfremdung" mit der Vorsilbe "ent-", die ja immer einen Vorgang des Wegnehmens oder Rückgängigmachens bezeichnet, sinnfällig dokumentieren lässt.
"Weggenommen" wird hier nämlich nicht das Heil oder die intakte Beziehung zu Gott durch Verstrickungen irdisch-sinnlicher Art, sondern im Gegenteil: Das Pneuma, also der Heilige Geist, löst den erlösungsbedürfigen Menschen aus seiner Befangenheit im trügerischen Erdendasein. Die Fremdheit wird aufgehoben.
Man muss erst das "Fremde" loswerden, abschütteln, überwinden, um die Voraussetzung zu erbringen, Gott zu schauen und mit ihm eins zu werden. Das wirkt dann bis in die Moderne hinein: Das moderne Subjekt muss die Entfremdung aufheben, um wahrhaftig und authentisch sein zu können.
Rosseau, der Entfremdungstheoretiker der Moderne
Rousseaus Konzept sagt: Wir leben alle in der Entfremdung, mehr oder weniger, fern von unserem natürlichen Ursprung, wie auch immer dieser einmal ausgesehen hat, der sich irgendwie an der instinkthaften, weitgehend tierischen Daseinsweise der allerersten Formen der Gattung Mensch orientiert. Die Entfremdung ist gewissermaßen eine conditio sine qua non des zivilisierten, vergesellschafteten Menschen.
Auch wenn das Wort: "Entfremdung" damals noch kaum geläufig war, ist die Kulturdiagnose, die damit einhergeht, doch eine ganz entscheidende und eine nachhaltig prägende Wegmarke für das Bewusstsein des Individuums in der Moderne. Es ist zerrissen und seines Ursprungs beraubt, auf der Suche und orientierungslos, auch überfordert mit der Verantwortung eigener Sinnsuche
Leben jenseits der Entfremdung
In-sich-Sein, bei-sich-Sein, authentisch leben, nach einer inneren Gesetzmäßigkeit und idealerweise im Einklang von Innen- und Außenwelt, mit sich und anderen, das wäre das Gegenteil der Entfremdung.
Es würde auch das Zusammenleben mit anderen Menschen harmonischer machen, wenn man selbst einen stabilen inneren Kompass besitzt. Es wäre Ausdruck einer inneren Autarkie, die nicht getrieben wird von den irrlichternden Affektionen der Außenwelt, die allzu oft in der Verfolgung von Scheinzielen endet, vom Ich-Verlust gar nicht zu reden.