Gereiztheit als Folge der Vernetzung
Es verschmelzen im Zuge der Digitalisierung, der Vernetzung und des weltweiten Einsatzes von digitalen Medien das Hier und das Dort, das Vergangene und das Gegenwärtige, die Information und die Emotion, das Gesprochene und das Geschriebene, das Reale und das Simulierte, die Kopie und das Original.
Das ist eine entscheidende Veränderung in der globalen Organisation von Information, ein Wechsel von der stärker publikums- und kontextspezifischen Segmentierung hin zur integrierenden Konfrontation.
Es gibt nicht mehr oder minder strikt getrennte Informationssphären für Junge und Alte, für Kinder und Erwachsene, sondern alle können potenziell alles sehen. Sie können fortwährend senden und empfangen. Wir sind gereizt, weil uns der Gedanken- und Bewusstseinsstrom anderer Menschen in nie gekannter Direktheit erreicht, wir ungefiltert der Gesamtgeistesverfassung der Menschheit oder den Einfällen eines delirierenden amerikanischen Präsidenten ausgesetzt werden, der seine Tweets in die Welt feuert.
Wir sind gereizt, weil wir nicht sicher wissen können, was von dem, was gerade noch als Gewissheit erscheint, eigentlich stimmt und wer Daten und Dokumente aus welchen Gründen und mit welchen Absichten manipuliert.
Wir sind gereizt, weil wir im Informationsgewitter in heller Aufregung nach Fixpunkten und Wahrheiten suchen, die doch, kaum meinen wir, ihrer habhaft geworden zu sein, schon wieder erschüttert und demontiert werden.
Gleichzeitigkeit des Verschiedenen
Wer die Neuorganisation unserer Informationswelt begreifen und die Tiefenursachen der allgemeinen Gereiztheit verstehen will, muss lernen, die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen zu denken, die pulsierende Simultanität von Schließung und Öffnung, Abschottung und Konfrontation.
Es gibt selbst geschaffene Filterblasen, Echokammern der Marke Eigenbau. Es gibt jede Menge Milieus für spezielle Gruppen und exklusiven, algorithmisch verstärkten Irrsinn – und doch sind die verschiedenen Gemeinschaften eben keineswegs komplett isoliert, sondern sie existieren in direkter Reibung mit anderen, oft nur einen einzigen Klick voneinander entfernt.
Eine neue Erregungsdidaktik
Vielleicht müssen angesichts der Gereiztheit der Einzelne und die Gesellschaft eine Emotions- und Erregungsdidaktik erfinden, die einen klügeren, sorgfältigeren Umgang mit den eigenen Affekten gestattet.
Die Leitfragen einer solchen Emotions- und Erregungsdidaktik ließen sich folgendermaßen formulieren: Was müssen wir wissen? Was ist im Sinne engagierter Zeitgenossenschaft und in dem Bewusstsein, dass eine Demokratie von Einmischung lebt, wirklich wichtig? Wie verknüpft man Aufregung mit Relevanz?
(Teil 2, Sonntag, 25. Oktober, 8.30 Uhr)