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Das Einhorn – Kult um ein Fabelwesen

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Matthias Kußmann
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Einhörner sind allgegenwärtig – als Plüschtier im Kinderzimmer, Symbol der queeren Bewegung oder in Esoterik-Seminaren. Das weiße pferdeähnliche Fabelwesen steht für Freiheit und Autonomie, aber auch für Reinheit und Heilkraft.

Aber wie fängt man ein Einhorn, woher stammt Einhornpulver und wann wurden die letzten Einhörner gesichtet? Eine Übersicht der 5 wichtigsten Erkenntnisse aus der aktuellen Einhornforschung.

1. Bisher wurden noch keine Fossilien von Einhörnern gefunden

Die Faszination für das Einhorn reicht bis ins dritte und vierte Jahrhundert vor Christus. Damals gehen Zoografen davon aus, dass es das Einhorn wirklich gibt. Der Philologe Bernd Roling von der Freien Universität Berlin berichtet von zoologischen Traktaten aus Indien und Äthiopien, die das Einhorn so beschreiben:

Es war ein kleines, sagen wir vielleicht ziegenartiges, sehr behändes, immer zur Flucht, aber auch zur Verteidigung bereites Wesen. Oft bunt auch, schillernde Farben zeichnen es aus. Und es hatte dieses markante Attribut des Horns, das so lang war, dass es ihm als Waffe diente.

Heute ist unklar, auf welche Beobachtungen sich die frühen Naturkundler gestützt haben könnten. Bis heute gibt es keinerlei fossile Funde, die den beschriebenen Tieren gleichen.

Viele Berichte gehen auf den Griechen Ktesias zurück, der Einhörner in seinem Werk über Indien erwähnt. Danach entwickelt die Kunde von dem exotischen Tier ein erstaunliches Eigenleben. Immer wieder behaupten Reisende, in fernen Ländern Einhörner gesehen zu haben. Naturkundler übernehmen die Informationen in ihre Schriften, von denen wiederum andere abschreiben – nicht zuletzt, weil das Publikum schon damals mit spektakulären Geschichten unterhalten werden will.

Die Figur des Camphur, ein amphibisches Tier und möglicherweise verwandt mit dem Einhorn, Äthiopien um 1570
Die Figur des Camphur, ein amphibisches Tier und möglicherweise verwandt mit dem Einhorn, Äthiopien um 1570

2. Um ein Einhorn zu fangen, braucht man eine Jungfrau

Im christlichen Mittelalter verkörpert das freiheitsliebende, schwer zu fangende Einhorn zunächst vor allem Stärke, Reinheit und Unschuld.

Da kommt jetzt eine Geschichte ins Spiel, die eigentlich bis heute noch nachwirkt. Und das ist die Art und Weise, wie man ein Einhorn fangen und zähmen oder auch töten kann. Dazu braucht man eine reine Jungfrau. Und die setzt man an einer gut einsehbaren Stelle auf eine Lichtung. Und mit ihrem süßen Geruch lockt sie dann das Einhorn an und fängt es. In manchen Quellen legt es dann seinen Kopf in ihren Schoß und schläft ein. In anderen, vornehmlich auch orientalischen Quellen, säugt sie es. Aber in jedem Fall ist die reine Jungfrau unabdingbar in der Vorstellungswelt des christlichen Mittelalters, um ein Einhorn einfangen zu können.

Die Jungfrau steht für die biblische Jungfrau Maria und das Einhorn für ihren Sohn Jesus. Der Moment, in dem das Einhorn gefangen wird, symbolisiert die jungfräuliche Empfängnis.

3. Einhornpulver hilft gegen Gift und Krankheit

"Niemand ist der dieses Tier je in Europa gesehen hat" - die Sonderausstellung "Einhorn – eine fabelhafte Geschichte" im Museum Aargau zeigt Walstoßzähne, die früher für Einhörner verkauft wurden
Die Sonderausstellung "Einhorn – eine fabelhafte Geschichte" im Museum Aargau zeigt Walstoßzähne, die früher für Einhörner verkauft wurden

Das geriebene Horn eines Einhorns soll gegen alle möglichen Krankheiten helfen, etwa gegen Fieber, Eiterbeulen oder Epilepsie. Auch die Universalgelehrte Hildegard von Bingen ist von seiner Wirkung überzeugt. Und es soll Gifte neutralisieren. Darum lassen sich mächtige Menschen, die Angst haben vergiftet zu werden, nicht selten Trinkgefäße aus angeblich echtem Einhorn fertigen. Der Pfarrer und Laienmediziner Johann Coler schreibt Ende des 16. Jahrhunderts in seinem weit verbreiteten "Hausbuch":

Die Reichen nemen ein Stücklein Einhorn in den Mund, das lesst keine Gifft in des Menschen Mund eingehen.

Im Hochmittelalter und der Frühen Neuzeit verkauften betrügerische Walfänger Pulver aus Narwal-Stoßzähnen zu horrenden Preisen als "echtes Einhorn". Heute weiß man, dass es sich dabei um bis zu drei Meter lange, wie Schrauben gewundene Stoßzähne der Narwale aus dem Nordpolarmeer handelt.

4. Die letzten Einhörner wurden auf dem Mond gesichtet

Da es keine Bildaufnahmen der letzten Einhornsichtung gibt, handelt es sich hierbei um ein Symbolbild
Da es keine Bildaufnahmen der letzten Einhornsichtung gibt, handelt es sich hierbei um ein Symbolbild

Der Glaube an die Existenz des Einhorns hält sich bis ins 19. Jahrhundert. In einem Artikel der "New York Sun" soll es sogar als Beweis für Leben auf dem Mond dienen.

Die letzten Exemplare werden ja um 1840 auf dem Mond gesehen, dank eines Super-Teleskops, das in Südafrika angeblich gebaut wurde. Wo dann nicht zuletzt in so einem wunderbaren Zeitungs-Fake nicht nur Flügelmenschen dort diesen Mond bevölkern, sondern, das hab ich dann mit großer Befriedigung festgestellt, eben auch immer noch Einhörner zu finden sind.

Immer differenziertere Methoden der Wissenschaft verweisen das Einhorn Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig ins Reich der Fabeln.

5. Einhörner sind vielseitige Projektionsflächen

In der queeren Bewegung steht das Fabelwesen für Anders- und Einzigartigkeit, der Regenbogen für die Vielfalt sexueller Orientierungen. Allgemein symbolisiert das Einhorn vor allem Freiheit, Individualität, Stärke, Unschuld und Heilung.
In der queeren Bewegung steht das Fabelwesen für Anders- und Einzigartigkeit, der Regenbogen für die Vielfalt sexueller Orientierungen. Allgemein symbolisiert das Einhorn vor allem Freiheit, Individualität, Stärke, Unschuld und Heilung.

Als Projektionsfläche dient das geheimnisvolle, so scheue wie starke Fabeltier seit über 2000 Jahren in verschiedensten Zusammenhängen. Etwa im Einhorn-Symbol der Queer-Bewegung oder dem Buch "Das Neinhorn" von Marc-Uwe Kling und Astrid Henn. Es erzählt von einem kleinen Einhorn in der Trotzphase und ist schon jetzt ein Klassiker der Kinderliteratur.

Die Esoterikbranche knüpft dagegen an die Legende von der Heilkraft des Fabelwesens an. Es gibt Einhorn-Sommercamps und Meditationskurse, die für spirituelle Energie sorgen oder zu einem höheren Bewusstsein führen sollen. Mal wird es als Beschützer, mal als Lichtwesen verstanden, und man kann sogar zu ihm beten. An dieser vielfältigen Faszination dürfte sich auch künftig nichts ändern und die Einhorn-Forschung weitergehen, meinen Bernd Roling und Julia Weitbrecht. Denn, so Weitbrecht, das Einhorn ist ein Tier, ...

... das Fröhlichkeit hervorruft, Interesse hervorruft und gleichzeitig zumindest in den historischen Quellen, mit denen wir uns befasst haben, immer auch mit einer gewissen Melancholie belegt ist. Es geht um die Scheuheit, es geht darum, es einzufangen, es geht immer um die Frage: War es jetzt das letzte Einhorn? Oder gibt es vielleicht doch noch in irgendwelchen entlegenen Ecken der Welt ein letztes Exemplar?

Ausstellung

"Einhorn – Eine fabelhafte Geschichte"

Man staunt nicht schlecht, wenn man den Raum in der Ausstellung im Schweizer Schloss Lenzburg betritt. Da steht ein makellos weißes Pferd, Kopfhöhe etwa eins achtzig, mit einem imposanten gewundenen Horn auf der Stirn. Es scheint zu lächeln. Gibt es das sagenumwobene Einhorn, das Menschen schon seit der Antike beschäftigt, also doch?
Man staunt nicht schlecht, wenn man den Raum in der Ausstellung im Schweizer Schloss Lenzburg betritt. Da steht ein makellos weißes Pferd, Kopfhöhe etwa eins achtzig, mit einem imposanten gewundenen Horn auf der Stirn. Es scheint zu lächeln. Gibt es das sagenumwobene Einhorn, das Menschen schon seit der Antike beschäftigt, also doch?

Die Sonderausstellung "Einhorn – eine fabelhafte Geschichte" zeigt, dass das Fabelwesen schon seit Jahrhunderten die Menschen beschäftigt. Das Museum Aargau präsentiert in der kleinen Ausstellung Objekte für unterschiedliche Bedeutungen, die dem Tier zugeschrieben worden sind – vom Mittelalter bis zur Gegenwart.

Buchtipp

SWR2 lesenswert Kritik Bernd Roling, Julia Weitbrecht – Das Einhorn. Geschichte einer Faszination

Bernd Roling, Professor für Mittel und Neulatein und Jutta Weitbrecht, Professorin für Ältere deutsche Spache erkunden gemeinsam die Kulturgeschichte des Einhorns. Die Beschäftigung mit dem Einhorn, das als Heilsbringer und Freiheitsdrang bis heute fasziniert, wirft ein Schlaglicht auf die Grundfiguren mittelalterlichen Denkens.

Hanser Verlag, 160 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-446-27610-9

SWR2 lesenswert Kritik SWR2


Bernd Roling, Julia Weitbrecht: "Das Einhorn. Geschichte einer Faszination". Hanser Verlag München 2023

Julia Weitbrecht hat mit dem Philologen Bernd Roling das Buch "Das Einhorn – Geschichte einer Faszination" geschrieben. Als er das Thema vorschlug, reagierte sie zunächst skeptisch. Ihr war das Fabeltier als popkulturelles Phänomen suspekt, im Gegensatz zu ihrem Kollegen.

Aber ich hab mich im Rahmen meiner Beschäftigung mit religiösen Symboliken mit Tieren in der christlichen Vorstellungswelt befasst, und da ist das Einhorn ganz prominent. Und dann hab ich festgestellt in der universitären Lehre und auch in anderen Zusammenhängen, bei Vorträgen, dass das Thema und das Tier eine riesige Strahlkraft haben, und das hat mir gefallen.

Ich hab in der Tat auch ein durchaus popkulturelles Faible für Einhörner. Ich mag die auch so.

SWR 2023

Buchkritik Bernd Roling, Julia Weitbrecht: Das Einhorn. Geschichte einer Faszination

Bernd Roling, Professor für Mittel und Neulatein und Jutta Weitbrecht, Professorin für Ältere deutsche Spache erkunden gemeinsam die Kulturgeschichte des Einhorns. Die Beschäftigung mit dem Einhorn, das als Heilsbringer und Freiheitsdrang bis heute fasziniert, wirft ein Schlaglicht auf die Grundfiguren mittelalterlichen Denkens.
Rezension von Andrea Gnam.
Hanser Verlag, 160 Seiten, 24 Euro
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