Michael Köhlmeier: Bruder und Schwester Lenobel

Familie ist auch keine Lösung

Stand

Der 1949 im Vorarlberger Bodenseedörfchen Hard geborene Michael Köhlmeier gehört zu den vielseitigsten Schriftstellern deutscher Sprache. Er hat zahlreiche Romane geschrieben, etwa das vielgelobte Monumentalwerk „Abendland“, die ausgezeichneten Texte „Zwei Herren am Strand“ und „Das Mädchen mit dem Fingerhut“.

Wenn man in seinem Werk nach einem zentralen Thema sucht, wird man schnell feststellen, dass es in allen Arbeiten ums Ganze geht, um das Leben und den Tod, vor allem aber um die Liebe. Und Liebesgeschichten gibt es einige im neuen, schwergewichtigen Roman „Bruder und Schwester Lenobel“, der im Hanser Verlag erschienen ist.

Die in ihrer Allgemeinheit so pathetisch wie lakonisch gehaltene Widmung „für die Familie“ ist eine erste bittere Pointe, die Michael Köhlmeier in seinem neuen Roman „Bruder und Schwester Lenobel“ bereithält. Denn auf den folgenden 540 Seiten zertrümmert der Schriftsteller auf hinterlistig sanfte Weise alles, was Familie ist und sein könnte. Die Ehen und Partnerschaften, die familiären Bindungen, im Grunde alle bürgerlichen Formen des Zusammenlebens, die auf Struktur und genealogische Ordnung setzen, lösen sich in dieser weit verzweigten Geschichte auf.

Familie ist auch keine Lösung

Es beginnt damit, dass der Psychoanalytiker Dr. Robert Lenobel verschwunden ist. Vielleicht ist er abgehauen, vielleicht ist der Mann, der sich so gut auskennt mit dem Seelenleiden der anderen, selbst verrückt geworden. Darüber spekulieren Ehefrau Hanna und Schwester Jetti, die sich in der Wiener Wohnung der Familie Lenobel treffen. Jetti ist aus Dublin angereist, wo sie eine Agentur leitet, die kulturelle Großprojekte mit allerlei Fördergeldern organisiert. Die Reise in die Heimatstadt ist auch eine Flucht vor ihrem Beziehungsdurcheinander. Gleich zwei Liebhaber machen sie zeitweise glücklich, dann aber auch sehr unglücklich, der verheiratete Jamie und der schöne und in seiner selbstgefälligen Oberflächlichkeit völlig schmerzbefreite Lucien.

Lucien ist ein Muttersöhnchen, ein narzisstischer Charakter mit kindlicher Emotionalität, der sich nach der Trennung von Jetti zu einem veritablen Stalker entwickelt. Schwierigkeiten mit dem angeblich starken Geschlecht aber hat Jetti schon seit ihrer Schulzeit gehabt, was auch daran liegt, dass sie offenbar promiskuitiv veranlagt ist bzw. weil sich vom Mathelehrer bis zum Schulwart fast alle Männer in ihrer Umgebung einbilden, sich in die junge Schöne verlieben zu dürfen.

Wenn es darum ging, die Frau des Mathelehrers zu beruhigen oder die Schwester vor den depressiven Anwandlungen der Mutter zu bewahren, war Bruder Robert zur Stelle, und so ist es auch kein Wunder, dass Jetti nach Wien kommt, nicht etwa um der verstörten Schwägerin Hanna zu helfen, sondern vielmehr um der eigenen Liebe zum Bruder auf den Grund zu gehen.

Alle Familienmitglieder sind therapiebedürftig

Je näher wir dem vermissten Robert in dem fein gesponnenen Text kommen, desto tiefer tauchen wir ein in eine Familiengeschichte, die düsterer kaum sein kann: Ein verschwundener Vater und eine betrogene Mutter. Jüdische Großeltern mütterlicherseits, die im KZ ermordet wurden. Jüdische Großeltern väterlicherseits, die sich in Israel gemeinsam das Leben genommen haben. Traumatisiert sind in dieser Familie alle, ob nun wegen des Naziterrors oder aufgrund von Lebensentwürfen, in denen eine kaum eingestandene Lieblosigkeit herrscht.

Michael Köhlmeier legt seine traurigen Helden tatsächlich auf die Therapeutencouch. Aus sicherer Erzähldistanz, fast wie im Märchen, lässt er seine Protagonisten über sich und andere reflektieren, und dabei erkennen Bruder und Schwester Lenobel, dass sie sich trennen müssen von Bindungen, die kein Glück versprechen, sondern nur die Macht der Gewohnheit beinhalten.

Der Schriftsteller Michael Köhlmeier
Der Schriftsteller Michael Köhlmeier

Dieser Familienroman ist ein Trennungsroman, der die Qual der Beziehungsauflösung und das Unglück der Zurückgelassenen mal elaboriert, mal drastisch und zuweilen auch humorvoll ausleuchtet, um dann mit erzählerischer Leidenschaft die Liebe der wahrhaft Seelenverwandten zu feiern. Robert Lenobel findet sein Seelenfrieden nicht, wie er zeitweise glaubt, im Land und in der Religion der Vorfahren, weder in der Literatur noch in der Theorie, sondern im schweren und dann wiederum einfachen Entschluss, die Ehefrau zu verlassen und ein Leben mit der schwangeren Geliebten beginnen.

Jetti wiederum erkennt, dass Roberts Freund, der Schriftsteller Sebastian Lukasser – der bereits in anderen Romanen Michael Köhlmeiers eine tragende Rolle spielt – jener Mann ist, der nicht nur schöne und schauerliche Märchen zu erzählen weiß, sondern mit dem sie nach all den Jahren der Freundschaft endlich eine längst überfällige, und in dieser Notwendigkeit fast schon märchenhafte Liebe beginnen möchte.

Rache in Märchenform

Sebastian Lukassers Märchen, die von Liebe, Trennung und Tod handeln, sind in kursiver Schrift eingefügt in diesen – und hier ist das Adjektiv wirklich mal angebracht – meisterhaften Roman, der auch jenseits der literarischen Spiegelebenen aberwitzige intellektuelle Höhenflüge bereithält: Exkurse über das Hören und das Sehen, über Langweile, den Hass, über das Gute und Böse, also die großen Themen der Psychoanalyse und der Philosophie.

„Märchen sind samt und sonders Rachegebilde“, heißt es an einer Stelle. Der profilierte Märchenerzähler Köhlmeier hat mit seinem neuen Roman aber viel mehr als ein Rachegebilde abgeliefert. Das Buch ist eine anspruchsvolle Erkenntnisprosa, die im Stile negativer Dialektik gerade gewonnene Einsichten wiederum zurücknimmt, die grenzenlose Freude am Fabulieren demonstriert, die an den Reichtum der Sprache mit längst vergessenen Wörtern wie „affrös“ erinnert und die allen Tugendwächtern mit einem schalkhaften Lächeln entgegnet, dass die Liebe auch in nachkommenden Generationen nicht auf dem Schlachtfeld bürgerlicher oder religiöser Moral entschieden wird – dass die Suche nach den Seelenverwandten zu den schönsten und grausamsten Erfahrungen im Leben – und in der Literatur zählt.

Stand
Autor/in
SWR