Randalierer zertrümmern die Scheiben des als Flüchtlingsheims genutzten Hotels in Rotherham

32 Jahre nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen

Rostock und Rotherham: Wenn Geschichte sich wiederholt

Stand
Autor/in
Julian Burmeister

Es sind Bilder, die sich erschreckend ähneln: Kurz vor einem vermutlichen Rechtsruck bei den Wahlen in Ostdeutschland zeigen die Ausschreitungen im englischen Rotherham, wie schnell Fremdenhass noch immer eskalieren kann – wie damals in Rostock Lichtenhagen.

Es war der Zeitpunkt an dem weltweit klar wurde: Deutschland hat wieder ein Naziproblem. Die mehrtägigen Ausschreitungen gegen ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen waren kein singuläres Ereignis, sondern der Höhepunkt einer langen Reihe von gezielten Aktionen einer neu erstarkten rechten Szene.

Machtlose Polizei, desinteressierte Politik?

Nachdem Unbekannte den Angriff auf die Herberge der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) im sogenannten „Sonnenblumenhaus“ in Rostock Lichtenhagen in lokalen Tageszeitungen angekündigt hatten und die Behörden nicht darauf reagierten, kam es ab dem 22. August vier Tage lang zu Angriffen auf die Unterkunft von hunderten Neonazis.

Jugendliche Randalierer mit Steinen bewaffnet 1992 in Rostock Lichtenhagen
Unter den Randalierern befanden sich in Rostock auch zahlreiche Jugendliche.

Die völlig überforderte Polizei lieferte sich anfangs Straßenschlachten mit den Randalierern und zog sich am zweiten Tag der Ausschreitungen zurück. Die Bewohner des Sonnenblumenhauses blieben ohne Schutz und mussten fürchten, zu verbrennen. Denn: Das Wohnhaus wurde unter dem Beifall von rund 3.000 Schaulustigen angezündet; die Feuerwehr vom Einsatz abgehalten.

Youtube-Video NDR-Doku zum Anschlag in Rostock-Lichtenhagen:

Was blieb, war die Erkenntnis, dass diese rechte Szene das Geschehen nach Belieben kontrollieren konnte und dabei die Zustimmung und auch die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung hatte, während die Polizei machtlos war.

Die Ausgangslage zu den kürzlichen Unruhen in Großbritannien (mit Festnahmen unter anderem in Liverpool, Manchester, Middlesbrough, Bristol und Belfast) ist tatsächlich vergleichbar mit der in der Bundesrepublik Deutschland von 1992.

Das Gefühl, sein gutes Recht zu verteidigen

Auch in Großbritannien trifft eine Bevölkerung, die unter hoher Arbeitslosigkeit und Bedeutungsverlust leidet, auf eine rechte Szene, die den Migrationsdruck als Sündenbock nutzt.

Ausgangspunkt für die Krawalle in England waren die Morde an drei englischen Mädchen im englischen Southport. Ein Mann hatte am 29. Juli ein Tanzstudio mit einem Messer bewaffnet gestürmt und die Kinder getötet. Acht weitere Kinder und zwei Erwachsene wurden schwer verletzt.

Diese schier unbegreifliche Tat wurde zum Streichholz, an dem sich die vermeintlich heilige Wut der Randalierer entzündete. Eine Mahnwache in Southport schlug um in Gewalt, die sich an vielen Orten in Großbritannien wiederholte.

Randale in Rotherham
Ein Stuhl wird von Randalierern auf Polizisten geworfen bei einer Anti-Einwanderungsdemonstration vor dem Holiday Inn Express in Rotherham. Nach der Messerattacke in Southport am 29.07.2024 gibt es zahlreiche nationalistische und antiislamische Proteste in Großbritannien.

„Der Staat schützt uns nicht, wir müssen es selbst in die Hand nehmen“ ist dabei das ewig gleiche Mantra derjenigen, die sich selbst nicht als rechtsradikal betrachten und Gewalt gegen Flüchtlingsheime als Selbstverteidigung ansehen, wie im englischen Rotherham geschehen.

Erst nach rund einer Woche konnten die Behörden die gezielt antimuslimische und antimigrantische Randale eindämmen.

Falschmeldungen verbreiten sich wie ein Lauffeuer

Einen wichtigen Unterschied gibt es dennoch: Die neuerliche Empörung der randalierenden Briten war nur aufgrund einer Falschmeldung möglich. Denn der mutmaßliche Täter von Southport ist Brite mit ruandischen Eltern. Er ist weder Asylsuchender noch Muslim.

Diese falschen Informationen verbreiteten sich blitzschnell im Netz, unter anderem über X, dessen Besitzer Elon Musk dort selbst Unwahrheiten verbreitet und dank zahlreicher Entlassungen ein Fact-Checking oder Maßnahmen gegen Hatespeech auf der Plattform unmöglich gemacht hat.

Heilige Wut braucht Gewissheit

Ein Portal wie X, das immer noch von vielen offiziellen Stellen auch in Deutschland genutzt wird, wird zum Brandbeschleuniger, wenn ein neu-rechter Tech-Milliardär wie Musk dort ungehindert von einem unvermeidlichen Bürgerkrieg schreiben kann.

Oder wo der britische Rechtsaußen-Politiker Nigel Farage der Regierung unterstellen kann, der Bevölkerung etwas zu verheimlichen.

Unterstützung von höherer Stelle, wie in Farages Fall, hilft dem rechten Mob dabei, sich mit Elan gegen Migranten Polizei oder auch Politiker zu stellen. Weiteren Einfluss haben ferner auch potentielle Märtyrer wie Tommy Robinson, den Gründer der English Defence League, der England mittlerweile verlassen hat, mutmaßlich wegen eines versäumten Gerichtstermins.

Robinson, mit bürgerlichem Namen Stephen Yaxley-Lennon, hatte zu vielen der Versammlungen aufgerufen, die in Krawalle mündeten – oft in der Nähe von Moscheen.

Aus dem Ausland postet Robinson natürlich weiter in hoher Schlagzahl Falschmeldungen auf X. Und das ist auch der Punkt, an dem sich die Krawalle von Rostock Lichtenhagen und Rotherham unterscheiden.

Die Neurechte 2.0 ist digital bestens vernetzt

Die Rechte Szene konnte sich 1992 nur via Mundpropaganda organisieren, was immerhin ausreichte, um Neonazis aus ganz Deutschland in Rostock zusammen zu trommeln. Aber das braucht Vorlauf.

Heute genügt ein gezielter Aufruf auf Plattformen wie X oder TikTok um gewaltbereite Menschen zu einer bestimmten Uhrzeit an einen bestimmten Ort zu bringen, sagt der amerikanische Militäranalyst Ryan MacBeth. Rechte Gewalt kann sich heute noch um ein Vielfaches schneller verbreiten als noch vor 30 Jahren.

Eine beklemmende Entwicklung, gerade vor den anstehenden Wahlen in Thüringen, Sachsen (1. September) und in Brandenburg (22. September).

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