Hörspiel in drei Teilen

Gespräch mit Dos-Passos-Übersetzer Dirk van Gunsteren

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Das epochale Großstadtpanorama von John Dos Passos als Hörspiel

"Wenn New York einem schal und langweilig erscheint, ist das Schreckliche daran die Tatsache, dass man nirgendwo anders hinkann. New York ist die Spitze, der Gipfel der Welt. Hier können wir immer nur im Kreis laufen wie ein Hamster im Käfig", schreibt John Dos Passos in seinem legendären Großstadtroman "Manhattan Transfer".

Dirk van Gunsteren wurde 1953 in Düsseldorf als Sohn niederländischer Eltern geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach dem Abitur unternahm er mehrere längere Reisen durch Indien, Großbritannien und die USA und studierte Amerikanistik, Geschichte und Deutsch als Fremdsprache.

Seit 1984 arbeitet er als Übersetzer aus dem Englischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören T.C. Boyle, Peter Carey, Jonathan Safran Foer, John Irving, V.S. Naipaul, Thomas Pynchon, Philip Roth und Oliver Sacks. 2007 wurde er mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. Er lebt in München.

Wann haben Sie "Manhattan Transfer" zum ersten Mal gelesen?

Mit zwanzig, kurz nach dem Abitur. Es war eine zerlesene englische Taschenbuchausgabe, die ich auf einem griechischen Flohmarkt gefunden hatte. Der Titel hatte mein Interesse geweckt, und der Einstieg war verheißungsvoll. Da gab es keine langatmigen meteorologischen Erörterungen, keine umständliche Einführung von Protagonisten, statt dessen: Totale (Stadt im Morgenlicht) - Zoom auf Hafen und Fährboot (Menschenmassen strömen durch das Fährhaus in die Straßen) - Schnitt: Entbindungsstation (ein Neugeborenes wird versorgt) - Schnitt: Fährboot (Gespräche zwischen Passagieren) - Schnitt: Entbindungsstation, usw.

Das war großartig und in seiner Direktheit überwältigend, eher ein Film als ein Buch. Als hätte das geschriebene, gelesene Wort plötzlich eine neue Dimension bekommen. Ich war zum ersten Mal nicht nur vom Inhalt eines Buches überwältigt, sondern auch von seiner Form, von der Art des Erzählens: Dass es möglich war, so zu schreiben!

Es war ein Vorgeschmack auf das Gefühl, das sich ein paar Jahre später einstellte, als ich zum ersten Mal Thomas Pynchons "Gravity's Rainbow" las. Mit diesen beiden Büchern begann meine Liebe zur amerikanischen Literatur.

Hat sich bei jetzt beruflicher Lektüre die Faszination von Dos Passos erhalten? 

Natürlich ist man erleichtert und berührt, wenn man sich dem Objekt seiner ersten Liebe zuwendet und feststellt, dass es in Würde gealtert ist und nichts von seiner Schönheit verloren hat. Gewisse Schreibweisen, Wendungen und Konventionen des amerikanischen Originals sind heute nicht mehr gebräuchlich, und doch ist nichts an diesem Buch antiquiert. Es wirkt so frisch und unmittelbar wie vor neunzig Jahren.

Was hat eine Neuübersetzung dieses Klassikers notwendig gemacht? 

Die erste deutsche Übersetzung von Paul Baudisch erschien 1927, das heißt zwei Jahre nach dem Original, was für die damalige Zeit ein enormes Tempo war und ein Beweis für die Wirkungskraft von "Manhattan Transfer". Paul Baudisch war ein fleißiger und erfahrener Übersetzer, der viele Bücher bekannter Autoren übersetzt hat, und ich muss allem, was ich über ihn und seine Übersetzung sage, vorausschicken: Ich ziehe meinen Hut vor seiner Leistung. In den 1920er Jahren gab es nur wenige brauchbare, zuverlässige zweisprachige Wörterbücher, und die Kenntnis amerikanischer Redeweisen und Realien war äußerst begrenzt.

"Manhattan Transfer" muss Baudisch vor große sprachliche Probleme gestellt haben, für die er teils bewundernswerte Lösungen gefunden hat. Die expressionistischen Passagen mit ihren Schilderungen des Großstadtgetümmels zum Beispiel sind ihm großartig gelungen. Hier und da aber hat Baudisch, wie es scheint, einfach inspiriert geraten und manchmal lag er total daneben. So kommt es dann, dass auf dem Broadway nicht eine Straßenbahn (surface car), sondern ein "Planwagen" unterwegs ist.

Slang und den Jargon der Unterschicht – und davon gibt es in "Manhattan Transfer" eine Menge – beherrschte er auch im Deutschen nicht, wofür ihm schon Kurt Tucholsky mal was auf die Tatzen gegeben hat. Bei ihm sprechen selbst harte Hafenarbeiter im Kasinoton ("Wie geht's, altes Haus?") und sagen Sätze wie: "Ich besitze keinen roten Heller."

Von den lexikalischen Fehlern und Irrtümern einmal abgesehen, ist es vor allem der altväterliche Duktus, der diese Übersetzung so furchtbar verstaubt wirken lässt und einem Werk dieses Ranges nicht angemessen ist.

Mit welchen Schwierigkeiten sahen Sie sich konfrontiert?

Eine kritische Ausgabe von "Manhattan Transfer" gibt es meines Wissens nicht, wohl aber eine annotierte Ausgabe in "The Library of America". Diese enthält allerdings dieselben orthografischen Fehler wie die Erstausgabe und hat einige neue hinzugefügt. Auch die Anmerkungen waren nicht immer hilfreich, bzw. fehlten an entscheidenden Stellen.

So habe bei diesem Buch sehr viel mehr recherchiert als sonst – Personen, Gebäude, Verkehrsverbindungen und so weiter. Zum Glück ist die Geschichte New Yorks recht gut dokumentiert. Viele Zitate, Verweise und Anspielungen, die Baudisch entgangen waren, lassen sich heutzutage leichter finden und entschlüsseln.

Dos Passos' Werk gilt als Meisterwerk des modernen Romans. 1925 ist jedoch lange her. Wie lösten sie hier das alte Übersetzerproblem "traductore – traitore", um ihn historisch korrekt zu verorten, aber eben in ein zeitgemäßes Deutsch zu übertragen?

Dos Passos' Sprache ist, ebenso wie die Dinge, die er behandelt, überaus modern, in den deskriptiven Passagen geradezu zeitgenössisch. Das Zeitkolorit ergibt sich hauptsächlich aus den geschilderten Szenen und Vorgängen: Straßenbahnen und Pferdefuhrwerke rasseln durch Manhattan und verschwinden im Lauf der Handlung, die großen Wolkenkratzer, die heute die New Yorker Skyline bestimmen, werden gerade erst gebaut, und im Hafen sind Dampfschiffe unterwegs.

Ich habe mich bemüht, einen Ton zu treffen, der für den heutigen Leser 'natürlich' klingt ohne den Zeitbezug auf die 1920er Jahre zu leugnen. Und bin mir bewusst, dass meine Übersetzung irgendwann vermutlich aus eben diesem Grund veraltet klingen wird. Sehr knifflig waren die rasanten Wechsel: von einer atemlosen, kaleidoskopischen Schilderung des Molochs Großstadt zu einem reflexiven, assoziationsgesteuerten inneren Monolog, von einer Versammlung streikender Arbeiter zu einem höflichen Geplauder im Club. "Manhattan Transfer" stellt enorme Anforderungen an das Ohr und die sprachliche Bandbreite des Übersetzers.

Nach welchen Überlegungen haben Sie die Inserts oder Songtexte übersetzt? 

Dos Passos setzt Gedichtzeilen oder Songtexte oft als Kommentar zum Geschehen ein, das heißt ihre Bedeutung trägt zum Verständnis der entsprechenden Szenen bei, und daher habe ich sie in der Regel übersetzt. Darüber, ob das bei Klassikern wie Somebody Loves Me wirklich nötig gewesen wäre, ließe sich diskutieren.

Zum Abschluss eine persönliche Frage: Wie sieht Ihr Arbeitsalltag als Übersetzer aus? 

Ich taste mich langsam in ein Buch hinein, suche nach seinem spezifischen Ton und probiere dies und das. In der Anfangsphase schaffe ich nur ein paar Normseiten (1800 Zeichen) am Tag. Sobald ich den Ton gefunden habe, geht es schneller, und ich setze mir ein Tagespensum, normalerweise etwa acht Seiten. Das dauert, mit den üblichen häuslichen Unterbrechungen, von etwa 9 Uhr bis etwa 18 Uhr.

So gesehen wäre ich als Angestellter vielleicht besser dran, ganz zu schweigen von bezahltem Urlaub und so weiter. Aber dafür habe ich eine Arbeit, die ich liebe, und keinen Vorgesetzten, der mir in den Nacken schnauft. 

SWR2 Hörspiel am Sonntag extra John Dos Passos: Manhattan Transfer | Epochales Großstadtpanorama

"Manhattan Transfer" schildert die Geschichte von New York City zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Jon Dos Passos erzählt in Zeitsprüngen und über die Jahre hinweg u. a. von technischem Fortschritt, dem Kampf um sexuelle Freizügigkeit und Frauenrechte, Geld und politischer Macht.

SWR2 Hörspiel am Sonntag extra SWR2

Der amerikanische Schriftsteller John Roderigo Dos Passos (undatiertes Archivbild)

"Manhattan Transfer" Der Metropolenroman von John Dos Passos

Mit "Manhattan Transfer" veröffentlichte der US-amerikanische Schriftsteller John Dos Passos 1925 einen Roman, der so neu, innovativ und überraschend war wie die Stadt selbst.

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SWR