Zum Tag der Deutschen Einheit

Interview mit Trierer Politikwissenschaftler Linden: "Demokratie in existentieller Krise"

Stand
Interview
Valeska Parpart

Am 3. Oktober feiert Deutschland die Wiedervereinigung. Entfernen sich Ost und West immer mehr voneinander und wie steht es um das Demokratieverständnis im Land? Wir fragen Markus Linden von der Universität Trier.

SWR Aktuell: Zum Tag der Deutschen Einheit wird in jedem Jahr ein großes Fest gefeiert, dieses Jahr in Schwerin. Auch in Mecklenburg-Vorpommern ist die AfD aktuell stärkste Kraft bei der Sonntagsfrage. Ändert sich gerade das Demokratieverständnis in Deutschland?

Markus Linden: Ich würde erst einmal sagen, dass sich die Demokratie in Deutschland in einer existentiellen Krise befindet. Wenn eine rechtsextremistische Partei in einzelnen Bundesländern die 30-Prozent-Marke knackt, und im Westen, in Hessen zum Beispiel, an die 20 Prozent heranreicht, dann ist das aus politikwissenschaftlicher Perspektive eine fundamentale Integrationskrise. In vielen Bevölkerungsteilen besteht offenbar keine Hemmung mehr, diese Partei zu wählen. Das geschieht nicht immer aus ideologischen Gründen, teils sind es auch Protestwähler. Aber es sei daran erinnert, dass auch die NSDAP bei den Novemberwahlen 1932 von einem Drittel der Wählerinnen und Wähler gewählt wurde.    

SWR Aktuell: Würden Sie sagen, dass sich die Menschen in Ost und West immer mehr voneinander entfernen? Gibt es eine größere Spaltung der Gesellschaft?

Linden: Im Endeffekt ist es so, dass wir in beiden Landesteilen oft auch parallele Tendenzen beobachten. Deshalb sehe ich nicht, dass sich Ost und West voneinander entfernen. Ich tue mich schwer darin, von einer neuen Spaltung entlang der alten Grenze zu sprechen. Das Thema bearbeite ich seit 25 Jahren - und die Diagnose fehlender "innerer Einheit" ist dabei ein Evergreen. Wir haben eine stärkere Polarisierung. Die verläuft aber nicht zwischen Ost und West, sondern die verläuft zwischen denen, die für das populistische Narrativ vom angeblichen "Betrug am Volk" offen sind und denen, die sich strikt dagegen wehren. Letztere sind in der Mehrheit, die Populisten haben aber in AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) parteipolitische Repräsentanten.

Wir haben eine stärkere Polarisierung. Die verläuft aber nicht zwischen Ost und West.

SWR Aktuell: Halten Sie die Ergebnisse der AfD bei den letzten Landtagswahlen in Deutschland auch in Rheinland-Pfalz für möglich?

Linden: Es wird oft gesagt, dass der Osten da besonders ist. Aber eine solche Entwicklung ist überall möglich. In Rheinland-Pfalz ist es so, dass das Parteiensystem noch recht stabil ist. Wir haben es zu tun mit relativ starken Parteien, der SPD und der CDU, die auch eine gewisse Verankerung haben in der Gesellschaft. Das heißt, die Parteien sind hier in diesem Bundesland noch Volksparteien. Eine Gefahr würde ich darin sehen, wenn man diese Parteien zu stark personalisiert. Wir haben es zum Beispiel gesehen in Brandenburg, wo Dietmar Woidke (SPD) einen ganz personalisierten Wahlkampf gemacht und gesagt hat, dass der Wahlsieger bei dieser Wahl letztendlich derjenige wäre, der die meisten Stimmen bekäme. Im parlamentarischen Regierungssystem gewinnt jedoch der, der qua Koalition eine Mehrheit im Parlament besitzt. Jetzt steht Woidke da ohne einen Koalitionspartner aus der demokratischen Mitte. Also ich würde warnen vor einer zu großen Personalisierung, vor einer zu großen Medienorientierung und vor einer Aushöhlung der innerparteilichen Demokratie. Das sind präsidentialisierte Pyrrhussiege, die das Fundament der demokratischen Parteiendemokratie schwächen.  

Eine solche Entwicklung ist überall möglich.

SWR Aktuell: Welche strukturellen Unterschiede zwischen den Bundesländern muss man dabei beachten?

Linden: Es gibt politisch-kulturelle Unterschiede zwischen den ostdeutschen, den "neuen" Bundesländern und den "alten" Bundesländern. Ein großer politisch-kultureller Unterschied ist, dass in den ostdeutschen Bundesländern Gleichheit als wichtigerer Wert angesehen wird als Freiheit. Während in den westdeutschen Bundesländern, wenn man das so pauschalisieren will, Freiheitswerte eine größere Bedeutung haben. Das spiegelt sich dann auch im Demokratieverständnis wider. Außerdem ist es so, dass wir im Westen allgemein eine Parteiendemokratie haben, die noch stärker verankert ist als in Ostdeutschland.

Zudem haben wir im Osten eine viel stärker ausgeprägte Unzufriedenheit mit der Regierung, der Demokratie und den demokratischen Institutionen. Die hat sich früher zum Teil entladen in der Wahl der Linkspartei. Mittlerweile entlädt sie sich in der Wahl des prorussischen Bündnis Sahra Wagenknecht oder der offen rassistischen AfD. Es ist aber nicht so, dass extremistische Grundhaltungen nur in Ostdeutschland verbreitet sind. Es ist vielmehr so, dass im Westen die alte Parteiendemokratie noch etwas stärker ausgeprägt ist und mäßigend wirkt. Mit professionalisierter Medienkommunikation allein bleibt die politische Integration oberflächlich. Schon Mitte der 2000er konnte die NPD im Osten von der Entstehung eines solchen "Niemandslands" profitieren.

Politik-Professor Markus Linden von der Universität Trier
Politik-Professor Markus Linden von der Universität Trier

SWR Aktuell: Warum fühlen sich die Menschen von den anderen Parteien nicht mehr abgeholt?

Linden: Da muss man ein bisschen an den Beginn der AfD zurückerinnern. Die AfD hatte sich ja als einzige Alternative gegen das herkömmliche Parteiensystem verkauft. Wir hatten in der Bundesrepublik Deutschland mit den Hartz-Gesetzen eine wichtige Entscheidung, die eigentlich von allen Parteien im Parlament mit verabschiedet wurde. Das setzte sich dann fort in drei Großen Koalitionen in vier Legislaturperioden. Und das waren, aus meiner Sicht, genau drei Große Koalitionen zu viel.

SWR Aktuell: Was meinen Sie damit genau?

Linden: Regierung und Opposition waren aus der Perspektive der Bevölkerung nicht wirklich voneinander zu unterscheiden. Die Großen Koalitionen haben ihr Übriges dazu getan und das hat sich dann die AfD zunutze gemacht. Die AfD stellt das herkömmliche Parteiensystem als eine Sammlung von Komplizen dar, die quasi im Konsens miteinander alles gegen die Bevölkerung aushandeln. Und diese Rhetorik, die das politische System natürlich völlig falsch wiedergibt, verfängt offensichtlich bei einem Teil der Bevölkerung. Was außerdem sehr dazu beigetragen hat, ist die Entstehung einer neuen Medienlandschaft. Eine Alternativöffentlichkeit, die auf diesem populistischen Grundnarrativ basiert, dass eine als geschlossen dargestellte Elite einem vermeintlich betrogenen homogenen Volk gegenübergestellt wird. Diese Negative Öffentlichkeit, wie ich sie nenne, vereint Akteure in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie reicht von verschwörungstheoretischen Kanälen bis hin zu populistischen Krawallmedien. Desintegration ist hier ein Geschäftsmodell – und Weidel oder Wagenknecht fungieren als Markenbotschafter.  

SWR Aktuell: Wie wichtig ist so ein großes Landesfest zum Tag der Deutschen Einheit, wie es in diesem Jahr in Schwerin stattfindet?

Linden: Ich finde schon, dass man an den 3. Oktober als Tag der deutschen Einheit erinnern soll. Dass man auch an die friedliche Revolution erinnern muss, an die Leistung der DDR-Bürger und an die Revolutionen in Ostmitteleuropa. Und es ist sehr erfreulich, dass das Fest abwechselnd in den verschiedenen Bundesländern stattfindet, weil es den föderalen Charakter Deutschlands hervorhebt. Eine solche Veranstaltung darf aber nicht als Jubelveranstaltung daherkommen. Sondern man sollte sie mit kontroverseren Formaten ausgestalten. Das ist nicht einfach. Aber ich glaube, dass neben den üblichen Reden durchaus auch Platz wäre für politische Diskussion. Das scheint mir manchmal ein bisschen zu wenig ausgeprägt zu sein.

Das Interview führte SWR Aktuell-Redakteurin Valeska Parpart

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