Fieber, Kopfschmerzen, Durchfall - die Symptome bei Poliomyelitis, auch bekannt als Kinderlähmung oder Polio, sind nicht einheitlich. Anders als Pest oder Pocken trat Polio jahrhundertelang nur begrenzt auf. Erst mit der Industrialisierung kam es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Epidemien.
Oft hat die Viruskrankheit keine gravierenden Folgen. Doch weil das Virus bestimmte Nerven schädigt, die die Muskulatur steuern, kommt es bei einem kleinen Teil der Infizierten zu Lähmungen an Armen und Beinen, die bei manchen lebenslang bestehen bleiben. Eine medikamentöse Behandlung der Krankheit steht bis heute nicht zur Verfügung - aber ein Impfstoff, um ihren Ausbruch zu verhindern.
Erste Impfung in Rheinland-Pfalz in Ludwigshafen
Dieser Impfstoff wurde im Rahmen der Impfkampagne in den 60er Jahren aus den Vereinigten Staaten importiert, kam am Flughafen in Frankfurt am Main an und wurde, begleitet von Polizisten, nach Koblenz, Landau und Trier gebracht. Dort befanden sich die Einsatzzentren, die den Wirkstoff wiederum an die Impfstellen verteilten.
Der damalige Südwestfunk (SWF) hat am Tag der ersten Impfung in Ludwigshafen zugeschaut und dokumentiert, wie die ersten Impflinge die verdünnte Impfstofflösung in einem Becher mit Zuckerwasser erhielten. Im Video ist auch ein Gespräch mit dem damals amtierenden rheinland-pfälzischen Innenminister August Wolters (CDU) zu sehen, der über den Ablauf der Impfaktion in Rheinland-Pfalz aufklärte:
Wie heute in der Corona-Pandemie wurden von den Behörden öffentliche Impfstellen eingerichtet, und insbesondere in Schulen und Kindergärten wurde geimpft. Aufgrund der zunächst knappen Verfügbarkeit des Wirkstoffs waren zunächst die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen dran: Säuglinge ab dem sechsten Lebensmonat, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 20 Jahre.
Fehler bei der Herstellung führt zu folgenschwerem Zwischenfall
Auch in Deutschland war schon in den 50er Jahren nach einem Impfstoff geforscht worden. Bei den Epidemien 1953 und 1954 starben hierzulande fast 10.000 Menschen. Der Schutz versprechende Wirkstoff, produziert in Hessen, erhielt 1954 auch bereits die Genehmigung der hessischen Behörden und im darauffolgenden Jahr wurden 50.000 Kinder geimpft. Doch nach wenigen Wochen wurde der Impfstoff wieder gesperrt: Ein Zwischenfall im selben Jahr in den USA hatte zu weiteren Auflagen geführt.
Durch Mängel in der Produktion waren nicht abgetötete Viren in den vom US-Amerikaner Jonas Salk entwickelten Impfstoff gelangt, der eigentlich inaktiv war, sodass nach einer Impfung über 1.000 Kinder erkrankten. Hunderte blieben für immer gelähmt und einige starben. Die Auflagen für die Impfstoffherstellung wurden ausgeweitet und der deutsche Impfstoff immer noch nicht freigegeben.
Westdeutsche Mediziner misstrauten Impfstoff aus Sowjetunion
Kritik gab es in den USA außerdem, da Salks Impfstoff in drei Spritzen verabreicht werden musste. Der US-Mediziner Albert Sabin entwickelte einen Lebendimpfstoff, der in Tropfenform auf einem Stück Zucker eingenommen werden konnte. Um die Wirksamkeit zu belegen, ging Sabin in die damalige UdSSR, die Heimat seiner Eltern. Dort organisierten die Behörden bereits 1958 - auch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und begleitet von einem "Impfwettlauf" - eine Massenimpfung.
Hierzulande verzichten viele Eltern nach dem Zwischenfall in den USA auf eine Impfung. Erst als die US-Behörden 1961 den Impfstoff von Sabin übernahmen, wurde in Deutschland die Impfkampagne "Schluckimpfung ist süß - Kinderlähmung ist grausam" gestartet. Die BRD hatte zu diesem Zeitpunkt die höchste Polio-Rate ganz Europas. Gerade erst war eine schwere Epidemie mit 4.600 Erkrankten, über 3.300 Gelähmten und 272 Toten zu Ende gegangen.
In der DDR hingegen war bereits 1960 die erste Massenschluckimpfung eingeführt worden, doch westdeutsche Politiker misstrauten dem von Sabin in Zusammenarbeit mit sowjetischen Forschern entwickelten Schluckimpfstoff, den die DDR-Behörden direkt aus der Sowjetunion erhielten. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) lehnte ein Angebot aus der DDR über drei Millionen Einheiten des Impfstoffs in der heißen Phase des Kalten Kriegs gar ab. Erst im Februar 1962 machte Bayern den Anfang mit einer Massenschluckimpfung.
Inzidenz innerhalb eines Jahres um 90 Prozent niedriger
Die Anzahl der Neuerkrankungen sank binnen eines Jahres um über 90 Prozent. Da mit einem Lebendimpfstoff geimpft wurde, kam es in seltenen Fällen noch zu Erkrankungen durch den Impferreger. Darum wird seit 1998 ein weiterentwickelterTotimpfstoff gespritzt.
Ein Video aus dem Jahr 1965 zeigt ein Interview mit dem Virusspezialisten Walter Hennessen und erklärt, wie zu diesem Zeitpunkt im Land mit der Schluckimpfung geimpft wurde: SWR Abendschau - Impfaktion gegen Kinderlähmung in Rheinland-Pfalz.