Jedes Mal, wenn Silke Decker aus Nackenheim ihr Haus verlässt, dann hat sie welche dabei. Fünf oder sechs Briefe nimmt sie mit und "verliert" sie dann irgendwo. Dort, wo Menschen vorbei kommen, legt sie sie ab. An Aussichtspunkten, auf Parkbänken, auf Fensterbrettern oder auf Mauern. Wer einen Brief findet und ihn öffnet, der wird mit aufmunternden Worten und liebevollen Beigaben wie Steinchen oder Holzherzen belohnt.
Für die Briefe selbst braucht die 42-Jährige jeweils zwei bis drei Stunden. In dieser Zeit überlegt sich Silke Decker genau, was sie thematisieren will. "In einem meiner ersten Briefe habe ich meine eigene Lebensgeschichte erzählt", berichtet sie mit einem Lächeln. Dabei hat es die Sekretärin nicht leicht gehabt in der Vergangenheit. Sie berichtet davon, wie sie in ihrer Schulzeit "aufs Übelste" gemobbt worden war, wie ihre Eltern ihr die Unterstützung versagt haben.
Erst als Decker vor 20 Jahren ihren Mann kennenlernte, änderte sich ihr Leben. Er habe ihr Halt gegeben und sie zu einer selbstbewussten Frau werden lassen. Davon will sie nun andere profitieren lassen - mit Hilfe der Briefe.
Idee der anonymen Briefe entstand während Corona
Im ersten Jahr der Corona-Krise entwickelte sie zusammen mit einer Freundin aus Nordrhein-Westfalen die Idee. Seitdem sitze sie zwei bis drei Stunden pro Woche am Computer und tippe ein Schreiben nach dem anderen. Dabei tauschen sich beide Frauen aus, teilen ihre Ideen und Inhalte. Und jedes Mal, wenn Silke Decker das Haus verlässt, ob beim Spazierengehen, Fahrradfahren, beim Geocaching oder Einkaufen, immer "verliert" sie den einen oder anderen Brief. Wie viele Silke Decker bisher los geworden ist? Sie weiß es nicht. Es dürften Hunderte sein.
Mutter findet vor Tumor-OP einen Brief
Die Reaktionen sind bisher ausnahmslos positiv. Zwar antworten nur wenige Leser, wohl, weil die Briefe nicht signiert sind. Nur eine anonyme Instagram-Seite hat Silke Decker angegeben. Wer sie dort anschreibe, der bekomme auch Antwort. Am eindrücklichsten sei die Rückmeldung einer jungen Mutter gewesen, die einen von Silke Deckers Botschaften in einem Ärztezentrum im Nachbarort fand.
Die Frau war auf dem Weg zu einer Operation - ein bösartiger Tumor sollte entfernt werden. Durch den Brief habe sie so viel Kraft geschöpft, dass sie plötzlich kaum noch Angst verspürt habe, erinnert sich Decker.
Momente wie diese signalisierten ihr, dass sie auf dem richtigen Weg sei. Aber obwohl ihr die positiven Reaktionen schmeicheln, will sie die Briefe weiterhin nicht unterschreiben. Allein, dass sie anderen Menschen etwas von ihrer positiven Energie abgebe, treibe sie an. Sie brauche keine Rückmeldung. Wer einen der Briefe von Silke Decker lesen möchte, der muss nur nach Nackenheim kommen. Mit etwas Glück findet man sie. Die Tasche der Briefeschreiberin ist jedenfalls immer gut gefüllt.