Das Amtsgericht Speyer hat am Montag einen 17-jährigen Mehrfachstraftäter zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Ihm wurden vier Diebstähle und ein versuchter Diebstahl zur Last gelegt, außerdem Trunkenheit am Steuer und Fahren ohne Fahrerlaubnis. Ob die Freiheitsstrafe auf Bewährung ausgesprochen wird, steht noch nicht fest. Sollte sich der 17-Jährige in den kommenden drei Monaten nichts mehr zu Schulden kommen lassen, bekommt er laut Gericht eine Bewährungsstrafe. Begeht er hingegen weitere Straftaten, muss er die Haftstrafe antreten.
Wir haben Ernst Blickensdörfer, der als Jugendamtsmitarbeiter im Haus des Jugendrechts in Ludwigshafen straffällig gewordene Jugendliche betreut, zum Fall befragt. Und wollten auch wissen: Wie kann man kriminelle Karrieren von Jugendlichen stoppen?
SWR Aktuell: Herr Blickensdörfer, ist das denn ein typischer Fall von Jugendkriminalität, wie er auch Ihnen in Ihrem Arbeitsalltag begegnet?
Ernst Blickensdörfer: In Ludwigshafen leben über 30.000 Kinder und Jugendliche, die begehen im Jahr 4.000 Straftaten. Die 4.000 Straftaten werden von 3.000 Kindern und Jugendlichen begangen. Der weit überwiegende Anteil der Jugendlichen begeht eine oder zwei Straftaten, meist jugendtypische Delikte, die sieht man dann nie wieder. Die lassen sich nie wieder etwas zu Schulden kommen.
Etwa 50 Jugendliche davon fallen aber immer wieder durch Straftaten auf, auch durch gravierende. Mit diesen Jugendlichen beschäftigen sich die Jugendhilfe und die anderen Kooperationspartner im "Haus des Jugendrechts" besonders. Von daher ja. Es ist ein Fall, der so auch in Ludwigshafen vorkommt. Aber nein, es ist kein typischer Fall für alle Jugendlichen. Die wenigsten, das sieht man an den Zahlen, werden zu Mehrfachtätern.
SWR Aktuell: Welchen familiären Hintergrund haben die straffällig gewordenen Jugendlichen? Mit was haben sie zu kämpfen?
Blickensdörfer: Die straffällig gewordenen Jugendlichen sind oft mehrfach psychisch belastet. Oft fehlt ein Elternteil, weil er gestorben ist oder sich die Eltern getrennt haben. Sie leiden unter traumatischen Erlebnissen, etwa weil sie mit ihren Familien auf der Flucht waren oder weil sie von den Eltern vernachlässigt wurden. Die Jugendlichen haben oft Sprachprobleme, wenn sie erst zugewandert sind. Oft kommen sie mit unserer Gesellschaft und den Werten, die hier herrschen, schlecht klar, weil sie in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen sind. Das sind nur einige Beispiele.
Manche Jugendliche wollen einem Männlichkeitsideal entsprechen, das unserem hier in Deutschland nicht entspricht. Viele kommen aus bildungsfernen Familien oder leben mit Eltern zusammen, denen eine Schulbildung nicht so wichtig ist. Oft sind die Eltern mit der Erziehungsaufgabe überfordert. Die Familien kämpfen oft mit einem geringen Einkommen. Da könnte man noch jede Menge mehr Probleme nennen. Und oft kommen bei den Jugendlichen auch mehrere Probleme auf einmal zusammen.
SWR Aktuell: Sie sind ja als Jugendamtsmitarbeiter im Haus des Jugendrechts in Ludwigshafen tätig. Ihr Bereich ist die Jugendhilfe im Strafverfahren. Wer arbeitet denn mit den jungen Leuten?
Blickensdörfer: Im "Haus des Jugendrechts" in Ludwigshafen arbeiten vier Institutionen zusammen: Zum einen die Jugendsachbearbeiter der Polizei, die ermitteln in den Fällen zusammen mit der Staatsanwaltschaft. Außerdem gibt es die Mitarbeiter des Jugendamts, für die ich verantwortlich bin. Wir haben die Aufgabe, einerseits mit den Jugendlichen und andererseits mit den Familien zu sprechen. Aber auch erzieherische Hilfen anzubieten und der Staatsanwaltschaft und den Gerichten, bei der Meinungsfindung zu helfen. Wir machen aber auch schon erste Vorschläge, wie erzieherische Maßnahmen aussehen könnten. Und dann gibt es einen vierten, sehr wichtigen Kooperationspartner, das ist der freie Träger der Jugendhilfe, 3bV gGmbH. Mit denen arbeiten wir zusammen. Die führen dann die erzieherischen Maßnahmen durch: Sie bieten zum Beispiel soziale Trainingskurse an und Erziehungsbeistandschaften und Ähnliches im Auftrag des Jugendamts.
SWR Aktuell: Mit Wegsperren ist es ja nicht getan - was müssen die Jugendlichen in der Jugendstrafanstalt angeboten bekommen, um draußen wieder ein "normales" Leben führen zu können? Eines ohne Straftaten?
Blickensdörfer: Sie haben natürlich Recht, Wegsperren alleine reicht sicherlich nicht. In manchen Fällen - gerade wenn die Straftat auch mit erheblichem Drogenkonsum einhergeht - macht eine Zäsur für junge Menschen und das Herausnehmen aus ihrem aktuellen Alltag aber schon Sinn. Also, dass die Strafe in einer Jugendstrafanstalt verbüßt wird. Da sind sie erstmal weg von den Drogen. Aber in der Jugendstrafanstalt in Schifferstadt zum Beispiel ist es nicht so, dass die Jugendlichen in eine Zelle "weggesperrt" werden. Die Jugendlichen leben im Grund genommen in einer Art Wohngemeinschaft. Es wird versucht, den Alltag familienähnlich zu gestalten.
Es gibt viele Angebote: Etwa Bildungsangebote, dass man den Schulabschluss nachholen kann. Es gibt Qualifizierungsmaßnahmen im handwerklichen Bereich. Es gibt Drogenberatung und Anti-Gewalt-Training oder andere soziale Trainings. Und das ist auch das Entscheidende, dass die Jugendlichen motiviert werden, an ihrer Persönlichkeit zu arbeiten. Denn ohne die Einsicht "Hey, ich muss auch selbst an mir arbeiten, die Angebote annehmen und etwas Gutes draus machen", geht’s nicht!
SWR Aktuell: Wie erfolgreich sind diese Hilfen?
Blickensdörfer: Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die sogar sagen, jeder Euro, der in die Präventionsarbeit investiert wird, rentiert sich für die Gesellschaft auch finanziell. Denn, wenn weniger Straftaten begangen werden, müssen auch weniger Sozialleistungen geleistet werden. Somit rentieren sich die Maßnahmen auch aus finanziellen Gründen. Aber ganz entscheidend: Die Präventionsarbeit stärkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Meine Erfahrung ist: die Maßnahmen wirken wirklich! Manche wirken vielleicht nicht sofort. Aber sie helfen den Jugendlichen auf alle Fälle! Und man sollte auch bedenken: Jede Straftat weniger bedeutet auch ein Opfer weniger.
SWR Aktuell: Wie stehen die Chancen dieses 17-Jährigen, der vor dem Amtsgericht in Speyer steht, wieder auf den "rechten Weg" zurückzufinden?
Blickensdörfer: Der kann definitiv noch die Kurve kriegen! Er muss sich aber auf Unterstützungsangebote einlassen. Das Jugendamt bietet zum Beispiel - falls er eine Bewährungsstrafe bekäme -, die Begleitung über einen Erziehungsbeistand an. Das müssten die Eltern des jungen Mannes beantragen. Aber das wäre eine Unterstützung, die etwa zwei Mal in der Woche insgesamt fünf Stunden stattfinden könnte. Da trifft man sich mit jemandem, der in der Jugendarbeit tätig ist, man kann den Alltag mit jemandem besprechen. Der Erziehungsbeistand kann aber auch bei schulischen Problemen helfen oder bei Problemen in der Ausbildung - je nachdem, was notwendig ist. Man kann schwierige Situation jeder Art zusammen besprechen und angehen. Der Jugendliche kann mitteilen, in welchen Situationen er etwa mit Aggression zu kämpfen hat und er lernt, damit umzugehen. Es ist also eine sehr weitreichende, umfassende Hilfe. Da gibt es schon gute Möglichkeiten.
Und meine Erfahrung ist, dass die meisten diese Phase, in der sie Straftaten begehen, auch überwinden und hinter sich lassen. Allerdings ist es so, dass Straftaten in der Regel nicht abrupt aufhören, sondern dass die sich "ausschleichen", das heißt mit der Zeit weniger werden und dann irgendwann ganz aufhören.
SWR Aktuell: Also zusammenfassend kann man sagen: Die Maßnahmen helfen und viele Jugendliche schaffen es raus aus dem "kriminellen Milieu"?
Blickensdörfer: Viele schaffen es raus. Bei manchen dauert es zwar, aber sie kriegen es hin. Ich hatte auch schon Jugendliche, bei denen ich dachte: "Bei dem wird das nichts." Und dann trifft man ihn eines Tages in der Fußgängerzone, rechts die Frau, links ein kleines Kind. Und dann sagt er: "Hallo Herr Blickensdörfer, kennen Sie mich noch? Mir geht es jetzt gut, ich mache nichts mehr." Und dann denkt man: "Okay, es hat gewirkt." Vielleicht hat auch die Freundin geholfen. Gute Beziehungen sind ein wichtiger Aspekt, der sich positiv auf die jungen Menschen auswirken kann. Aber alles, was wir tun, ist ein Mosaikstein im Leben des jungen Menschen, manchmal ein goldener, der ein bisschen mehr blinkt als die anderen Mosaiksteine.
Ich habe mal einen ehemaligen straffällig gewordenen Jugendlichen, den ich begleitet hatte, an einem Kiosk wieder getroffen. Und der sagte dann doch tatsächlich zu mir: "Ohne die Haft hätte ich es nicht geschafft!" Obwohl man ja versucht, mit allen Mitteln diese Haft zu vermeiden. Aber manchmal macht sie dann eben doch Sinn. Sie kann als Zäsur genutzt werden, um das eigene Handeln zu überdenken.