Eine Ortschronik gibt es in Lehmen schon länger. Natürlich umfasst sie auch die Geschichte des Moselortes während der NS-Zeit. Doch vieles darin basiert auf Überlieferungen und Erzählungen der Bürgerinnen und Bürger aus Lehmen. Genaue Kenntnisse über die Schicksale der jüdischen Familien gab es kaum. Vieles war bruchstückhaft.
Bis Ulrike Moritz dem Lehmener Christoph Stoffel im Jahr 2021 ihre unglaubliche Familiengeschichte erzählte. Damit legt sie das erste Puzzle-Teilchen. Sie ist die Enkelin des damaligen Lehmener Volksschullehrers Eberhard Marx.
Erinnerung an jüdische Familien in Lehmen
Neben Eberhard und Susanna Marx wohnt in der NS-Zeit das Ehepaar Sigmund und Thekla Feiner. Die Feiners sind jüdischen Glaubens, die Familien und deren Töchter sind Freunde. Seit 1933 leben sie nebeneinander in der Dorfmitte am heutigen Razejungeplatz in Lehmen. Christoph Stoffel sagt: "Die neue Ortschronik und die ganze Geschichte, die wir heute kennen, entstand eigentlich aus dieser bewegenden Familiengeschichte."
Denn diese war Anlass für die umfangreichen Recherchen zu der neuen Chronik mit dem Titel "Aber sie kamen nicht zurück – Jüdische Familien in Lehmen an der Mosel". Außerdem soll zukünftig eine Plastik an die jüdischen Familien in Lehmen erinnern.
Der Auslöser: Ein Versprechen im Sommer 1942
Auch das Ehepaar Feiner kann damals - so wie andere Familien jüdischen Glaubens - dem Rassenwahn der Nationalsozialisten nicht entgehen. Sigmund und Thekla Feiner werden am 27. Juli 1942 von den Nationalsozialisten deportiert. "Evakuierung in den Osten" nennen die Machthaber die organisierte Auslöschung von Menschenleben. Mitnehmen dürfen sie nur das Allernötigste.
Neben dem Wenigen, was sie mitnehmen dürfen, ist ihnen ihr schönes Tafelservice wertvoll, das nur zu besonderen Anlässen auf den Tisch kommt. Sigmund Feiner vertraut es deshalb seinem Freund und Nachbarn Eberhard Marx an - mit der Bitte, es aufzubewahren, bis er und seine Frau wiederkommen. Sie wissen nicht, dass sie niemals nach Lehmen zurückkehren werden.
Das Tafelservice ist alles, was von der Familie bleibt
Es ist das letzte Mal, dass sich die beiden Familien sehen: Sigmund Feiner stirbt 1943 im Ghetto in Theresienstadt, seine Frau Thekla 1944 in Auschwitz. Tochter Johanna, die Freundin der Marx-Töchter, wird von Nationalsozialisten bereits in der Nacht auf ihren 17. Geburtstag, am 14. Juni 1942, ins Vernichtungslager Sobibor transportiert und dort ermordet.
Das Versprechen aus dem Sommer 1942 hält 80 Jahre lang
Eberhard Marx aber hält sein Versprechen, bewahrt das Geschirr der früheren Nachbarn sorgsam weiter auf. Selbst als er 1942 versetzt wird, nimmt er es mit. Nach seinem Tod 1955 wird das Geschirr in seiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben. Alle Versuche im Lauf der Jahrzehnte doch noch Verwandte oder Nachfahren der Feiners ausfindig zu machen, bleiben erfolglos. Bis das Service 2013 in die Hände von Ulrike Moritz, der Enkelin von Eberhard Marx, kommt und sie einen neuen Versuch startet. Dann führen mehrere glückliche Zufälle plötzlich zu einem Wendepunkt.
Versprechen wird nach fast 80 Jahren eingelöst
Auch der Koblenzer Ulrich Offerhaus erfährt 2021 von dem Tafelgeschirr und der Suche nach den Nachfahren. Er kennt den Namen Feiner, weiß von einem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Koblenz. Offerhaus ist promovierter Theologe, Judaistik-Experte und pensionierter evangelischer Pfarrer. In akribischer und detektivischer Kleinarbeit findet er über mehrere Umwege und glückliche Zufälle schließlich Alyse Lichtenstein, die Ur-Ur-Großnichte von Siegmund Feiner, in den USA.
Dann geht alles ganz schnell. Im November 2021 kommen die letzten lebenden Verwandten der Feiners nach Lehmen. Endlich kann Ulrike Moritz das alte Familienversprechen einlösen und das so lange behütete Geschirr den Nachfahren übergeben.
Fast 80 Jahre nach dem Holocaust Frau aus Lehmen gibt Geschirr an jüdische Familie zurück
Fast 80 Jahre lang hat die Familie von Ulrike Moritz aus Lehmen auf das Geschirr aufgepasst, das der ehemaligen jüdischen Nachbarfamilie gehörte. Jetzt konnte sie es an die Erben zurückgeben.
Den Menschen Namen und Erinnerung zurückgeben
Ulrich Offerhaus möchte mit seiner Chronik vor allem gegen das Vergessen arbeiten. "Nur wenige aus Lehmen stammende Juden haben die Schoah überlebt, und keiner von ihnen kam je nach Lehmen zurück", erzählt er. Mit seinem Buch möchte er den Menschen ihre Namen und ihre Leben zurückgeben.
Zum Gedenken an die früheren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger soll auch eine Plastik am Razejungeplatz aufgestellt werden - dort, wo die Familien Marx und Feiner damals nebeneinander lebten. Künstlerin Petra Müller hat dafür die Form eines Rebstocks gewählt.
Der Rebstock entspringt dabei dem Geschirr der Familie Feiner - denn dieses war der Ausgangspunkt für die umfassende Aufarbeitung. Das Kunstwerk soll an alle jüdischen Familien erinnern, die damals in guter Dorfgemeinschaft und Freundschaft in Lehmen zusammenlebten.
Die Freundschaft von damals lebt nun weiter
Alyse Lichtenstein, die Ur-Ur-Großnichte von Siegmund Feiner, sagt heute: "Wir sind die Generation der Versöhnung". Enger könnte die heutige Freundschaft nicht sein: Für Alyse gehören alle Beteiligten nun zu ihrer eigenen Familie. Im Juli 2022 hat sie in den USA geheiratet. Ulrike Moritz und Christoph Stoffel waren mit ihren Familien eingeladen und Teil der Hochzeitsfeier.
Und wie damals vor über 80 Jahren kommt zu dem besonderen Anlass das gute alte Porzellan der Vorfahren hier zum ersten Mal wieder auf den Tisch. Es gibt ein jüdisches Hochzeitsmahl vom Geschirr der Feiners. Alle sind sich sicher: "Unsere Freundschaft wird nie wieder abreißen." Darüber hinaus sind neue Freundschaften entstanden. Das ist für alle Beteiligten trotz der traurigen Geschichte das Allerschönste.
Nachfahren bei Buch-Vorstellung in Lehmen live dabei
Zur Vorstellung der neuen Orts-Chronik und der Gedenk-Plastik sind deshalb auch die Lichtensteins, die Nachfahren der Familie Feiner, live per Video dazugeschaltet. Christoph Stoffel meint dazu: "Sie leben zwar alle in den USA, aber wir könnten jeden Einzelnen hier bei jedem Dorffest mittendrin dabei haben, und niemand würde abgesehen von der Sprache merken, dass es keine waschechten Lehmener sind."