Fast 80 Jahre nach dem Holocaust

Frau aus Lehmen gibt Geschirr an jüdische Familie zurück

Stand
Autor/in
Bruno Nonninger

Fast 80 Jahre lang hat die Familie von Ulrike Moritz aus Lehmen an der Mosel auf das Geschirr aufgepasst, das der ehemaligen jüdischen Nachbarfamilie gehörte. Jetzt konnte sie es an die Erben zurückgeben.

Alyse Lichtenstein hat diese Geschichte immer wieder von ihrer Oma Irene Lichtenstein gehört: Wie sie 1945 als junge Frau nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen zum ersten Mal wieder an einem Tisch essen konnte, von einem Teller und nicht mit den Händen - und wie sie sich dadurch langsam wieder "wie ein Mensch" fühlte. Diesen Satz ihrer Oma hat sich Alyse, die in Kalifornien lebt, auf den Arm tätowieren lassen.

"Mit Besteck und Geschirr essen zu dürfen - wie ein Mensch - das war für mich, als sei ich noch einmal geboren worden."

Außer Irene und ihrem ältesten Bruder wurde die ganze Familie im Holocaust ermordet. Alle übrig gebliebenen Verwandten von Irene, die mittlerweile in den USA leben, gingen bislang davon aus, dass nichts von dem, was der Familie einst an der Mosel gehörte, die NS-Zeit überdauert hatte.

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Jetzt aber steht Irenes Enkelin Alyse, die junge Amerikanerin, in Lehmen an der Mosel vor Ulrike Moritz und umarmt die Frau, die sie erst vor ein paar Monaten kennen gelernt hat. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass ausgerechnet ein blau-weißes Tafelservice mit goldenem Rand sie zusammenbringen würde.

Voller Ehrfurcht öffnet die junge Frau die Kiste, die Ulrike Moritz ihr mitgebracht hat. Darin ist das Geschirr, das früher in der Familie ihrer Oma nur an Festtagen auf den Tisch kam. Behutsam wickelt sie Teller und Terrinen aus dem Zeitungspapier - und ist sprachlos: "Es ist noch schöner, als ich es mir vorgestellt habe."

Ihre Oma Irene kann die Rückgabe leider selbst nicht mehr erleben. Sie ist 2020 gestorben. Auch deshalb sind ihre Kinder und Enkel auf Spurensuche nach Deutschland gekommen, haben das KZ Bergen-Belsen gesehen und auf dem jüdischen Friedhof in Koblenz die Gräber der Familie besucht.

Familie hat Geschirr fast 80 Jahre lang gehütet

Das Geschirr haben Verwandte von Irene Lichtenstein 1942 ihren Nachbarn überlassen, kurz bevor sie deportiert wurden. Ihre Freunde im Nachbarhaus in Lehmen sollten es aufbewahren, bis sie wiederkommen. Es ist das letzte Mal, dass sich die Familien sehen. Seitdem hütete die Familie von Ulrike Moritz das Tafelservice - zuerst Opa Eberhardt, dann seine Töchter, später Ulrike selbst.

Erster Kontakt im Juni 2021 - jetzt die Übergabe des Porzellans

Immer wieder versucht sie, Erben zu finden, hat aber keinen Erfolg. Bis sie zufällig mit einem Winzer ins Gespräch kommt. Er erzählt ihr, dass in Lehmen gerade die Geschichte der früheren jüdischen Nachbarn erforscht werde.

"Ich habe nie daran gedacht, das Geschirr wegzuwerfen oder zu verkaufen."

Danach geht es schnell. In Koblenz liest der pensionierte evangelische Pfarrer Ulrich Offerhaus in der Zeitung von Ulrikes Suche. Er forscht schon lange zur Geschichte der Juden. Offerhaus kontaktiert einen Bekannten in den USA, der meldet sich im Juni 2021 bei Alyse Lichtenstein. Danach ruft sie ihre Eltern an und fragt sie: "Sitzt ihr? Wenn nicht, setzt euch bitte, denn sonst fallt ihr um bei dem, was ich euch jetzt erzähle."

Schnell ist der Familie klar: Wir holen das Geschirr persönlich ab. Auch die Mutter von Alyse ist dabei. In einer öffentlichen Feierstunde im Schloss von der Leyen in Kobern-Gondorf ist es am Donnerstagabend an sie alle übergeben worden. Eine Spezialfirma bringt es danach in die USA.

Geschirr soll ins Holocaust-Museum kommen

Dort will Alyses ganze Familie in den USA wenigstens ein Mal gemeinsam von den blau-weißen Tellern essen. Danach darf sich jeder ein Stück mitnehmen, als Erinnerung. Der Rest soll ins Holocaust-Museum nach Washington kommen, das vor einigen Jahren ein Zeitzeugen-Interview mit ihrer Oma Irene gemacht hatte, sagt Alyse. Damit die ganze Welt diese unglaubliche Geschichte erfahren kann.

Und für Ulrike Moritz und Alyse Lichtenstein steht schon fest: Die Freundschaft, die früher ihre Familien verbunden hat, wollen sie fortführen - auch über die nächsten Generationen hinweg.

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