Die Zahl der Kriegstoten im Jahr 2022 war doppelt so hoch wie im Jahr davor, sagt die Friedensforscherin Ursula Schröder. Und die Zivilbevölkerung wird vermehrt zum Opfer. Die Direktorin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg ist beim Demokratieforum auch nicht sehr optimistisch für die Zukunft. Auf die Frage von Moderator Michel Friedman am Ende, ob eine friedliche Welt eine Illusion sei, kommt von ihr ein klares Ja.
238.000 Tote durch kriegerische Handlungen im Jahr 2022 - das ist die nackte Zahl. Aber wie erklärt sie sich? Für den Sicherheits- und Militärexperten Carlo Masala sind Terror und rohe Gewalt das effektivste Mittel, um Zivilbevölkerungen zu schwächen. Masala verweist auf den Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel.
Masala sieht eine Art Zeitenwende mit dem Ende der Bipolarität 1990, also dem Ende des Kalten Krieges. Natürlich habe es auch vorher Krisen und Konflikte gegeben. Aber die USA und die UdSSR hätten noch mäßigend einwirken können. "Das haben wir jetzt nicht mehr". Seither gebe es entgrenzte Kriege und das erste Opfer sei das humanitäre Völkerrecht.
"Terror der Hamas wie der 11. September"
Angesichts der aktuellen Entwicklungen der letzten Wochen nahm der Angriff der Hamas auf Israel und seine Auswirkungen in der Runde des Demokratieforums den größten Raum ein.
Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz zieht den direkten Vergleich zwischen dem Terror der Hamas und den Anschlägen vom 11. September 2001. Es sei wichtig, dass man den Terror in den richtigen Kontext setze. Die Hamas sei ebenso zu bewerten wie der Islamische Staat, so Polenz.
Dem widerspricht Ursula Schröder. "Der Vergleich hinkt". Das Problem mit der Hamas sei noch größer, es gehe um eine Organisation mit militärischem und politischem Arm mit einem großen Netzwerk. "Das ist ganz schwer zu bekämpfen". Schröder sieht mit Blick auf die israelische Innenpolitik keine Alternative zu einer Bodenoffensive in Gaza. Nach den überraschenden Attacken gab es viel Kritik am israelischen Sicherheitsapparat, die Regierung stehe innenpolitisch unter Druck.
Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson
Die Sicherheit und das Existenzrecht Israels sind deutsche Staatsräson. Aber was heißt das konkret, fragt Michel Friedman. "Das klingt sehr gut. Die Frage ist nur, was Israel sich davon kaufen kann," merkt Ursula Schröder kritisch an und zieht den Vergleich zu Artikel 5 des NATO-Vertrags. Der Begriff sei dehnbar und nicht deutlich, wie er in der Praxis zu verstehen sei.
Masala geht beim Begriff Staatsräson historisch zurück bis Machiavelli - jedes Mittel nutzen, dass die Existenz eines Staats aufrechterhält.
Auch Ruprecht Polenz betont die historisch begründete Solidarität mit Israel. Die Bundesrepublik sei mit Israel in besonderer Weise verbunden, deshalb auch nicht als Vermittler im Nahen Osten zu sehen. "Wir haben Interesse an einer regelbasierten Ordnung, die müssen wir schützen."
Schröder verwies im Nahost-Konflikt auch auf die Rolle der Hisbollah und die Rolle des Iran in diesem Zusammenhang.
Beim Stichwort Iran kam in der Runde der Diskutierenden dann die Frage nach Moral in der Politik auf. Wie kann man mit Ländern wie dem Iran oder Katar Geschäfte machen und gleichzeitig gegen Terror sein - so die provokante Frage von Michel Friedman.
Man müsse moralische Maßstäbe unter realistischen Bedingungen entwickeln, sagt Ruprecht Polenz und verweist auf die Rolle Deutschlands beim Atomabkommen mit dem Iran.
Deutsche Außenpolitik sei, so Carlo Masala, von der sehr deutschen Einstellung geprägt gewesen: Je mehr Kontakte, desto mehr Einfluss. "Das stimmt bei Russland nicht, bei China nicht und beim Iran auch nicht."
Ursula Schröder blickt über den europäischen Tellerrand hinaus - Deutschland müsse eine neue Rolle, neue Partner finden. Die regelbasierte Ordnung ist nach ihrer Einschätzung bereits zerfallen. "Ich gehe von einer Welt aus, in der wir unterschiedliche Ordnungsangebote unterschiedlicher Mächte haben werden. Mit viel Instabilität und Chaos. Dann kann die EU ein Anker sein."
Michel Friedman wirft am Ende noch die Frage auf, ob unter dem Eindruck der jüngsten Entwicklungen eine Bundesregierung heute noch die gleiche Entscheidung treffen würde, was die Rolle der Bundeswehr betrifft - also die Aussetzung der Wehrpflicht und die ungenügende Ausstattung.
Für Carlo Masala hat das auch damit zu tun, dass die Bundesrepublik, aus historisch verständlichen Gründen, kein Verhältnis zu militärischer Macht mehr habe. "Soweit sind wir noch nicht, das ist ein Schmuddelkind, über das keiner richtig reden will." Im Februar 2022 habe man gedacht, die ukrainische Hauptstadt Kiew würde in wenigen Wochen fallen und die Russen dann vor dem Baltikum stehen. "Dann hat man 100 Milliarden an die Bundeswehr gegeben." Aber Verteidigung sei viel mehr als eine vollausgerüstete Bundeswehr, so Masala. Die Bedrohung heutzutage komme nicht mehr von Panzern, sondern durch Cyberangriffe und Desinformation. Man müsse Verteidigung wesentlich breiter denken und "die Bevölkerung damit vertraut machen, wie wir mit Katastrophen umgehen".
Die Aufzeichnung der Diskussion finden Sie in der ARD Audiothek, in der ARD Mediathek und ab Samstag, 28. Oktober (abends) im SWR YouTube Channel. Am Sonntag, 29. Oktober wird die Sendung um 11:15 Uhr im SWR ausgestrahlt.
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Das Besondere an dieser Runde - das Demokratieforum gastierte nicht im Hambacher Schloss, sondern ging on tour nach Osnabrück zur Feier des 375. Jubiläums des Westfälischen Friedens. Hier und in Münster wurde 1648 der Dreißigjährige Krieg beendet, der halb Mitteleuropa verwüstet hatte. Mit dem historischen Friedensschluss zwischen Katholiken und Protestanten wurde ein Zeitalter relativer Toleranz und der Aufbruch in die Aufklärung und Emanzipation eingeleitet. Leider war dieses nicht von Dauer: Das 20. Jahrhundert erlebte zwei Weltkriege, den Holocaust und weitere Genozide in Bosnien, Ruanda und an anderen Orten.
Auch der Dreißigjährige Krieg kam seinerseits nicht mit den ersten Verhandlungsversuchen an sein Ende, sondern zog sich von den ersten Verhandlungen 1637 noch elf Jahre fort, bis es 1648 schließlich so weit war. Frieden braucht einen langen Atem.
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