DDR-Geschichte kommt in Schulen "viel zu kurz" - das beklagt 70 Jahre nach dem Volksaufstand von 1953 der Ostbeauftragte der Bundesregierung Carsten Schneider. Auch vermisst er ein Interesse der Westdeutschen am Osten und Osteuropa. Im Podcast zum "Interview der Woche" regt er an, die Ost-West-Städtepartnerschaften neu zu beleben.
DDR-Geschichte kommt in Schulen viel zu kurz
70 Jahre nach dem Volksaufstand in der DDR tritt der Ostbeauftragte der Bundesregierung Carsten Schneider dafür ein, dass in den Lehrplänen der Schulen der Geschichte der DDR mehr Raum gegeben wird. Die Zeit, in der sich im Geschichts- und Sozialkunde-Unterricht mit der DDR beschäftigt wird, sei "viel zu kurz", kritisiert der SPD-Politiker. Schneider erzählt im Interview der Woche vom Schicksal zweier Brüder aus dem thüringisch-bayerischen Dorf Mödlareuth, durch das 41 Jahre lang die innerdeutsche Grenze verlief und deshalb von in der Region stationierten amerikanischen Soldaten 'Little Berlin' genannt wurde. Die Geschwister – der eine lebte in Bayern, der andere in Thüringen – "die haben sich zugewinkt, aber die konnten nicht mehr miteinander sprechen". Schneider wünscht sich von den Schulen stärker die Vermittlung solcher Ost-West-Geschichten und kritisiert, dass im Unterricht vorwiegend geschichtliche Daten abgefragt werden.
Der Blick nicht immer nur nach Paris
Schneider beklagt, dass viele Westdeutsche ein geringes Interesse am deutschen Osten und Osteuropa haben. "99,5 Prozent der Ostdeutschen waren im Westen, aber 25 Prozent der Westdeutschen waren noch nie in Ostdeutschland". Wenn er offen spreche, dann spüre er keine Neugier bezüglich der Lebenserfahrung Ostdeutscher und Brüchen in ostdeutschen Biografien, sondern da herrsche "im Zweifel eine Totenstille". Der Staatsminister wünscht sich, dass der Blick "nicht immer nur nach Paris" gerichtet wird, sondern z.B. auch nach Warschau. Er ruft darüber hinaus dazu auf, nach Ostdeutschland zu reisen - etwa zum Bauhaus nach Dessau oder nach Halle an der Saale, das sich zur pulsierenden Stadt entwickele. Dies hätten viele nicht auf dem Schirm, was aus seiner Sicht ein "Defizit" sei. Schneider regt auch an, die oft eingeschlafenen Ost-West-Städtepartnerschaften mit neuem Leben zu erfüllen. Das könne für die gesamte Republik "befreiend und befruchtend" sein.
Volksaufstand in der DDR fast in Vergessenheit geraten
Über den Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953, der von der SED-Führung als Werk von Provokateuren bezeichnet worden war, wurde in der Kindheit des heutigen Ostbeauftragten der Bundesregierung im Familienkreis eigentlich "überhaupt nicht" gesprochen. Der 1976 in Erfurt, Thüringen, geborene Politiker erzählt, was vermutlich viele Ostdeutsche berichten könnten. Es hat "keine große Rolle mehr gespielt", dass vor 70 Jahren in verschiedenen Städten der DDR rund eine Million Menschen die Arbeit niederlegt und demonstriert haben, für bessere Arbeitsbedingungen, für niedrigere Lebensmittelpreise sowie gegen Bevormundung und Repression. Der erste Massenprotest gegen das SED-Regime seit Bestehen der DDR, der durch Einschreiten der roten Armee der Sowjetunion mit Panzern niedergeschlagen wurde, war vielen im Osten nur noch bekannt "durch den Feiertag im Westen, aber von dem haben wir natürlich relativ wenig mitbekommen", so der SPD-Politiker. Deswegen sei das Geschehen am 17. Juni 1953 zumindest in seinem DDR-Umfeld "eigentlich fast eher in Vergessenheit geraten".
17. Juni 1953 hat aktuelle Botschaft
Den Volksaufstand in der DDR vor 70 Jahren sieht Schneider in einer Reihe mit dem Aufbegehren der Menschen in ost- und mitteleuropäischen Ländern gegen kommunistische Diktaturen – 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und in den 80er Jahren in Polen. Vom 17. Juni gehe heute die Botschaft aus, dass der Wille nach Freiheit "stärker ist als alles andere". Der Sozialdemokrat sieht einen klaren Bezug zwischen dem Geschehen 1953 und heute, wenn er an die Freiheitsbewegung der Ukrainer denke, die "sich eben nicht unterjochen lassen wollen". Es sei eine Lehre aus dem Volksaufstand und dessen Niederschlagung, dass Demokratie uns nicht geschenkt wurde, sondern erkämpft wurde und dass sie auch verteidigt werden muss.