BW-Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne)

Chefarzt warnt vor Zuspitzung der Situation

Lage in Kinder- und Jugendpsychiatrie verschärft sich - Lucha will Kassen unter Druck setzen

Stand

Die Folgen der Corona-Pandemie machen sich bei Kindern und Jugendlichen bemerkbar. In den Psychiatrien in BW ist die Lage angespannt. Auf einen Platz muss ein Kind Monate warten.

Die bereits angespannte Lage in den baden-württembergischen Kinder- und Jugendpsychiatrien wird sich nach Ansicht des Esslinger Mediziners Gunter Joas weiter verschärfen. Nach der Pandemie offenbarten sich die Folgen der langen Corona-Phase für die Jüngeren, sagte der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Esslingen der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Die Ausstattung mit Therapieplätzen sei in Baden-Württemberg bereits vor Corona schlecht gewesen. "Nun kommt hinzu, dass psychische Probleme nach einer Ausnahmesituation wie Corona oft erst verzögert durchschlagen", sagte Joas. "Ich gehe deshalb davon aus, dass der Höhepunkt bei den psychischen Folgen für junge Menschen erst bevorsteht."

Sozialminister Lucha besucht Klinik in Esslingen

Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) hat sich am Dienstag vor der nächsten Sitzung des Landeskrankenhausausschusses selbst ein Bild in Esslingen gemacht. Angesichts der angespannten Lage in den Kinder- und Jugendpsychiatrien sollen die Krankenkassen notfalls gezwungen werden, langfristig für Dutzende bislang befristete Betreuungsplätze aufzukommen.

Er werde am Mittwoch im Krankenhausausschuss feststellen lassen, dass es Bedarf für die inzwischen 136 zusätzlichen stationären Behandlungsplätze gebe, die von den Kassen finanziert werden, sagte Lucha. Sollten sie nicht von der längerfristigen Zahlung überzeugt werden können, müssten sie notfalls gezwungen werden, sagte er. "Konfrontation wünscht sich niemand, aber ich kann im Ausschuss einer Konfrontation nicht aus dem Weg gehen, wenn hier kein Einvernehmen herrscht", so der Minister.

Auch eine Klage will er notfalls in Kauf nehmen. "Wenn sie gezwungen werden, könnte es sein, dass sie es beklagen. Das habe ich natürlich nicht selbst in der Hand", sagte er. Das Land hatte die Betten und Plätze vor einem Jahr ausgewiesen, um die zunehmend unter Druck stehenden Kliniken zu entlasten. Wegen der unsicheren Befristung gibt es aber Probleme, ausreichend Personal zu finden.

Krankenkassen zeigen Verständnis für die Situation im Land

Die Kassen zeigen Verständnis für die Lage. "Eine Fortführung der zusätzlichen 136 Betten ist ein denkbarer Ansatz, um die Versorgungslage aktuell zu stabilisieren", sagte DAK-Landeschef Siegfried Euerle der dpa. Das Problem werde dadurch aber nicht dauerhaft gelöst. AOK-Landeschef Johannes Bauernfeind erklärt, eine Entfristung könne vor Ort sinnvoll sein für eine Planungsperspektive. "Dies sollte jedoch für die betreffenden Standorte bedarfsorientiert beurteilt und im Landeskrankenhausausschuss beraten werden", sagte Bauernfeind. Wichtig sei vor allem, frühzeitiger einzugreifen, um die stationäre Aufnahme zu verhindern.

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Joas Klinik ist seit der Eröffnung durchgehend ausgelastet

Joas Klinik mit derzeit 30 stationären und elf tagesklinischen Plätzen sowie fünf Plätzen beim mobilen Behandlungsteam ist seit ihrer Eröffnung im Sommer 2015 durchgehend komplett ausgelastet. Die Warteliste ist ein Mehrfaches länger und es dauert nach Angaben von Joas viele Monate, bis endlich ein Platz frei wird.

Nach Angaben des Sozialministeriums gibt es derzeit im ganzen Land insgesamt 764 Betten und 422 Plätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Etwas mehr als zwei Dutzend Krankenhäuser im Land bieten Behandlungen an. "Die Not der Kinder ist derzeit groß", sagte der Chefarzt. "Ich bin schon sehr lange im Geschäft, aber ich habe noch nie so viele suizidale Kinder gesehen."

Chefarzt warnt: Ohne Behandlung kann sich Zustand verfestigen

Nach der Pandemie seien die psychischen Abwehrkräfte der Jüngeren aufgebraucht. "Diese Zeit war für Kinder und Jugendliche wie ausgestanzt" sagte Joas. "Ganz so, als hätte es sie gar nicht gegeben. Keine Tanzkurse, kein Ausflug ins Schullandheim, kaum Begegnung." Erwachsene unterschätzten diesen Ausnahmezustand der jungen Menschen, der nicht selten in Ängsten, Depressionen und Essstörungen mündet. "Mit jedem Tag ohne Behandlung kann sich der Zustand verfestigen", warnte er.

Ziel müsse es sein, trotz des enormen Drucks "vor die Welle zu kommen", sagte Joas. "Es geht nicht darum, kinder- und jugendpsychiatrische Bettenburgen zu bauen. Wir müssen uns um Betreuung, um Therapie und um schnell wirkende Alternativen zum derzeitigen Angebot kümmern." Auch Eltern seien gefragt. "Sie kommen zu spät zu uns, auch, weil in der Gesellschaft psychische Erkrankungen nach wie vor assoziiert werden mit einer Schuld der Eltern", sagte Joas. "Irgendwie darf man bei Eltern nur krank sein ab dem Hals abwärts."

Ähnliche Situation auch in Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tübingen

In der etwas größeren Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tübingen sieht es nicht anders aus. "Wir hatten überall im Land bereits vor der Pandemie eine Überlastung, jetzt sind die Wartezeiten erheblich gestiegen", sagte Tobias Renner, der Ärztliche Direktor und Leiter der Klinik. "Viele Kollegen schließen schon ihre Wartelisten."

Es gibt aber nicht nur deutlich mehr Fälle, die Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen werden nach den Erfahrungen der Ärzte auch immer schwerer. "Kinder sind komplexer erkrankt als in der Zeit vor der Pandemie", sagte Renner. "Da wird dann eine Magersucht begleitet von einer schweren Depression." Es zeige sich nun, wie schwer unter anderem die Belastung durch die Schulschließungen für die Jüngeren gewesen sei.

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Joas ist Mitglied der Task Force zur psychischen Situation von Kindern und Jugendlichen am Sozialministerium. Die Arbeitsgruppe hat sich unter anderem für 120 zusätzliche stationäre Behandlungsplätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eingesetzt, das Angebot ist nach Angaben des Sozialministeriums inzwischen auf 136 Plätze ausgebaut worden. Allerdings seien die Betten auf zwei Jahre begrenzt, kritisierte Joas. "Das ist ja völlig irre", sagte er. "Finden Sie mal fertig ausgebildetes Personal, das nur zwei Jahre bleibt, und jemanden, der für eine solche befristet geöffnete Station zahlt." Die Kapazitäten müssten langfristig ausgeweitet werden.

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