Aus seinem Wohnzimmer in Riedlingen (Landkreis Biberach) blickt Ernst Peter Ritzel jeden Tag auf die Evangelische Freikirche. Seine Familie hat sie in den 50er-Jahren mitaufgebaut, er war lange Zeit selbst aktives Mitglied. Gottesdienst, Bibelstunde und Kirchenchor - die Evangelische Freikirche Riedlingen war sein Lebensmittelpunkt. Doch mittlerweile hat der gläubige Ritzel mit dieser Freikirche nichts mehr zu tun. Und seine Nachbarn in der Siedlung auch nicht.
Freikirchen-Aussteiger: Es wurde "politisch-extrem"
Er sei ausgestiegen, nachdem es mit dem Prediger persönliche Differenzen gegeben habe, berichtet Ernst Peter Ritzel. Während der Coronakrise habe sich die Lage zugespitzt. Immer mehr Menschen besuchten die Gemeinde. Es wurde, so Ritzel, politisch-extrem. "Zum Teil haben Gottesdienstbesucher hier unsere Nachbarn angepöbelt. Das war ganz schön unangenehm."
Seit 2022 wird die evangelische Freikirche Riedlingen vom Verfassungsschutz Baden-Württemberg beobachtet. Der Vorwurf: Politiker würden dämonisiert, extremistische Verschwörungstheorien mit religiösen Botschaften vermischt. Von der Kanzel aus predigt Jakob Tscharntke etwa am 16. Mai 2021: "Ich sag das mal so deutlich: Wer sich heute impfen lässt, wird das Mahnzeichen des Antichristen annehmen." Die Predigten werden auch auf YouTube veröffentlicht.
Diese Töne aus seiner ehemaligen Kirche - Ernst Peter Ritzel war geschockt: "Weil ich persönlich mit diesen Verschwörungstheoretikern nichts zu tun haben möchte, das ist intellektuelle Provinzialität. Und die teile ich nicht." Der Verfassungschutz sieht die Gefahr, "dass zuvor nichtextremistisch eingestellte Kirchenmitglieder radikalisiert werden." Der SWR hat die Evangelische Freikirche Riedlingen mit den Vorwürfen konfrontiert aber keine Antwort erhalten.
Vor Ort berichten Anwohnerinnen und Anwohner von "Corona - Nein, danke!"-Stickern auf den Autos von Gottesdienstbesuchern. Vielen Menschen in Riedlingen ist aber auch heute noch nicht klar, dass sie im Ort eine Gemeinde haben, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Für das Doku-Format SWR Aktuell 360 Grad hat sich Hostin Leonie Maderstein in Riedlingen umgehört. Hier geht's zur Folge auf YouTube.
Volksverhetzung in Freikirche: Bibel als Rechtfertigung für Gewalt?
Die Evangelische Freikirche Riedlingen ist mit ihrer fundamentalistisch-extremen Auslegung der Bibel kein Einzelfall im Land. Auch in Pforzheim beobachtet der Verfassungsschutz die selbsternannte "Baptistenkirche Zuverlässiges Wort". Auch diese Gruppierung fällt immer wieder mit extremen fundamentalistischen Bibelinterpretationen auf. Der Vorwurf: "Delegitimierung des Staates" und Volksverhetzung.
In einem bisher unveröffentlichten Interview mit dem SWR aus dem Jahr 2023 werden die extremen Bibelauslegungen der Freikirche deutlich: Anselm Urban, Gründer der "Baptistenkirche Zuverlässiges Wort", interpretiere dort die Bibel in etwa so, dass Homosexualität mit dem Tod bestraft werden müsse. Dafür sei der Staat zuständig. Als Beleg zitiert er aus dem 3. Buch Mose, Kapitel 20, Vers 13: "Wenn ein Mann bei einem Mann liegt, als würde er bei einer Frau liegen, so haben sie beide einen Gräuel begangen, sie sollen unbedingt getötet werden".
Doch es bleibt nicht bei allgemeinen Forderungen. Ein anderer Pastor der Freikirche, Moses Golla, forderte im Juli 2023 auf YouTube den Tod des Pforzheimer Evangelikalen Lothar Gassmann - in drastischen Worten: "Herr, bevor du ihn in die Hölle schickst, bitte ich dich, dass du ihm zuerst alle Zähne und Knochen brichst - so schmerzhaft wie möglich." Gassmann selbst zeigt sich entsetzt über diese Aussage: "Ich war schockiert und musste weinen, dass jemand so etwas öffentlich ins Netz stellt." In den ersten Wochen nach dem Aufruf habe er Angst gehabt, "dass irgendein fanatisierter Anhänger diesen Befehl ausführt".
"Baptistenkirche Zuverlässiges Wort": Prediger vor Gericht
Gassmanns Angst ist nicht unbegründet. Auch der Verfassungsschutz bestätigt auf SWR-Anfrage, dass dieses Feindbild auch zu Gewalt führen könnte: "Im Falle der 'Baptistenkirche Zuverlässiges Wort' könnten radikalisierte Einzelakteure beispielsweise aktiv werden, wenn die Forderungen der Gruppierung durch staatliche Stellen nicht umgesetzt werden. Die Personen könnten versuchen, diese selbst (auch mit Gewalt) durchzusetzen." Mittlerweile gab es erste Anzeigen gegen die Baptistenkirche "Zuverlässiges Wort" und auch schon ein erstes Urteil. Wegen Volksverhetzung verurteilte das Pforzheimer Amtsgericht einen in Wien lebenden Prediger zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 40 Euro. Gegen das Urteil hat der Anwalt des 32-Jährigen Berufung eingelegt, der Fall wird nun vor dem Landgericht weiterverhandelt.
Sandra Kemp, Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Kirche in Baden, war als Beobachterin beim Prozess. Sie betont, diese Aufrufe zur Gewalt seien eine neue Entwicklung: "Ein Vorwurf von Volksverhetzung im Kontext einer christlichen Gemeinschaft ist extrem selten. Aussagen wie 'Menschen gehören getötet' oder 'Sie gehören verbrannt wie Müll' markieren eine neue Eskalationsstufe, die wir in dieser Deutlichkeit bisher nicht erlebt haben."
Freikirchen distanzieren sich
Die Mehrheit der Freikirchen in Deutschland teilt die Ansichten der Evangelischen Freikirche Riedlingen und der "Baptistenkirche Zuverlässiges Wort" allerdings nicht. So hat sich etwa der Bund Evangelischer Freikirchen Gemeinden von den beiden extremen Freikirchen distanziert.
Der Verfassungsschutz beobachtet die Gemeinden weiter und Ermittlungen laufen. Währenddessen führen die Freikirchen Pforzheim und Riedlingen ihre Aktivitäten fort. Und verbreiten wohl weiterhin ein Weltbild, das sich gegen den Staat und bestimmte Bevölkerungsgruppen richtet.
Diese Geschichte ist Teil der Sendung Zur Sache Baden-Württemberg vom 19. Dezember 2024. Hier geht es zur ganzen Sendung mit dem Thema "Gesellschaft ohne Gott: Brauchen wir den Glauben noch?"