282 Verstorbene, 282 Schicksale: Im vergangenen Jahr hat das Team um Sebastian Kunz, Leiter der Rechtsmedizin in Ulm, 282 Obduktionen durchgeführt. Manchmal eine am Tag, manchmal zwei oder drei, ganz selten sogar vier. Nur in ganz wenigen Fällen steckt Mord und Totschlag dahinter. Aber warum haben die Staatsanwaltschaften trotzdem 282 Mal eine Obduktion angeordnet?
Sebastian Kunz steht in seinem blauen Kittel im Sektionssaal der Uniklinik Ulm und legt sich sein Werkzeug zurecht - Kelle, Schere, Pinzette. Es ist 8 Uhr. Die erste Obduktion steht an. Routine für den Arzt, der vor vier Jahren die Stelle als Leiter des rechtsmedizinischen Instituts in Ulm übernommen hat.
Seit seinem Antritt ist die Zahl der Sektionen deutlich gestiegen. 2020 waren es noch 121, 2021 stieg die Zahl auf 180, 2022 auf 230 Obduktionen. Dass man nun bei 282 Obduktionen angekommen ist, "ist nicht automatisch ein schlechtes Zeichen", so Kunz.

Viele Sicherheitsobduktionen in der Rechtsmedizin in Ulm
Denn: "Nur die geringste Zahl der Obduktionen sind Tötungsdelikte", sagt der Chef der Rechtsmedizin. Auf dem Sektionstisch vor ihm liegt eine Verstorbene. Er untersucht die Tote äußerlich. Die meisten Obduktionen seien "Sicherheitsobduktionen", erzählt der 44-Jährige, während er für das Gutachten markante Körperstellen fotografiert. "Wie in diesem Fall. Alte Dame daheim aufgefunden, Wunde am Kopf. Da ist die Fragestellung: Wie ist das passiert?" Sprich: War es Fremdverschulden und die Frau wurde die Treppe heruntergestoßen? Oder hatte sie vielleicht einen Herzinfarkt und ist danach gestürzt? Das soll Kunz durch die Obduktion klären.

2023: Zahl der Obduktionen in Ulm auf Rekordniveau
Dass die Zahl der Obduktionen steigt, kann verschiedene Gründe haben, so Kunz. Zum einen passieren nach seinen Beobachtungen mehr potentielle Gewaltverbrechen. Fälle, die aufgeklärt werden müssen. Und gleichzeitig wird mehr darauf geachtet, dass es ein sicheres Ergebnis gibt. Übrigens kein regionaler Trend - nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin nehmen die Zahlen "stabil bis leicht" zu.
Das Ergebnis einer Sektion hilft immer der Ermittlungsarbeit weiter.
Es wird nicht immer nur angenommen, dass alles irgendwie seine Richtigkeit hat, so der Rechtsmediziner weiter. Vermeintlich klare Fälle werden öfter hinterfragt und durch eine Obduktion bestätigt - oder widerlegt. "Die Entscheider haben nach meinem Empfinden gelernt, dass durch eine Obduktion ein höheres Sicherheitsniveau gegeben ist."
Vergleichsweise viele Tötungsdelikte im Raum Ulm
Mit "Entscheider" meint Kunz die Staatsanwaltschaften. Sie ordnen die Obduktionen an. Das Team der Rechtsmedizin in Ulm, neben Kunz obduzieren noch vier weitere Rechtsmedizinerinnen, nehmen die Aufträge von Augsburg, Memmingen inklusive Zweigstelle Neu-Ulm, Kempten, Ravensburg, Heilbronn, Ellwangen und Ulm an. Ein riesiges Gebiet.
Obduzieren oder nicht - im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Ulm ist es der Chef, der diese Entscheidung trifft: Oberstaatsanwalt Christof Lehr hat im vergangenen Jahr 31 Obduktionen angeordnet. Sechs davon waren Tötungsdelikte. Oder zumindest mutmaßliche Tötungsdelikte - einige Fälle werden noch vor Gericht verhandelt. "Es waren erschreckend viele in meinem Bezirk", sagt Lehr.
Das Messer sitzt offensichtlich sehr locker.
Auffällig: Bei vier der sechs Tötungsdelikte in seinem Zuständigkeitsbereich war die Tatwaffe ein Messer, das "sitzt offensichtlich sehr locker", sagt Lehr.
Wann eine Obduktion angeordnet wird
Sobald ein Mensch stirbt, muss ein Arzt die Todesart feststellen: natürlich, nicht natürlich oder ungeklärt. Lautet das Urteil "ungeklärt" wird der Kriminaldauerdienst informiert. "Der nimmt wiederum Kontakt mit mir auf", so Christof Lehr. Für den Raum Ulm entscheidet der Oberstaatsanwalt dann, ob der Leichnam zur Bestattung freigegeben werden kann oder ob eine Obduktion angeordnet werden muss. Letzteres sei nur der Fall, wenn er Fremdverschulden nicht ausschließen könne.

Lieblingsort von Sebastian Kunz: Der Obduktionssaal
Eine Obduktion sei wie ein Puzzle, sagt Rechtsmediziner Kunz. "Ich habe eine Idee, was am Ende kommen könnte. Aber erst wenn ich alle Teile zusammengesetzt habe, ergibt es ein Bild." Krankengeschichte, Fotos vom Tatort, eventuelle Tatwerkzeuge und andere Hinweise.
Eine Obduktion ist wie ein Puzzle.
"Wenn man einen Rechtsmediziner fragt, ob genug obduziert wird, dann ist die Antwort klar: nein!", sagt Sebastian Kunz und grinst. Wird dann aber schnell wieder ernst. "Wenn wir als Gesellschaft ein hohes Aufklärungs- und Sicherheitsniveau haben wollen, dann bekommt man das nur über eine Obduktion." Das ist seine klare Meinung.
4.500 Obduktionen, 4.500 Schicksale
Die erste Obduktion dauert an diesem Tag "nur" eine Stunde, Kunz hatte auch schon deutlich kompliziertere Fälle. Es sei fast wie im Lehrbuch verlaufen, denn für Kunz ist klar: Die Wunde am Kopf der älteren Dame ist nicht die Todesursache. Die Verstorbene hatte ein schwaches Herz und ist an akutem Herzversagen gestorben. Deswegen ist sie gestürzt und hat sich eine Wunde am Kopf zugezogen. Kein Fremdverschulden, Fall abgeschlossen.
Rund 4.500 Mal hat Sebastian Kunz schon obduziert. 4.500 Tote, 4.500 Schicksale. Nicht immer ist das Ergebnis so klar, wie dieses Mal: "Ich bin zufrieden, die Polizei ist zufrieden und die Angehörigen wissen, dass es kein Fremdverschulden war. Das ist doch schön für alle Beteiligten", sagt der Mediziner zufrieden, der sich seit 2020 in Ulm um Gewalt, Verbrechen und Tod kümmert. Um das, was viele nicht sehen wollen.