Nach einem Schuss auf einen Polizisten bei einer Razzia im "Reichsbürger"-Milieu in Reutlingen ist der Verdächtige Markus L. in Untersuchungshaft. Das teilte die Bundesanwaltschaft am Mittwochabend in Karlsruhe mit. Ein Richter des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe erließ einen Haftbefehl. Der Mann hatte bei Durchsuchungen am Mittwoch vermutlich einen Polizisten durch einen Schuss verletzt. Der Zustand des Beamten eines Spezialeinsatzkommandos ist nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) stabil. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen den mutmaßlichen Schützen nun wegen mehrfachen versuchten Mordes. Der Mann habe die Polizisten im Wohnzimmer mit einer großkalibrigen Schusswaffe erwartet, dann sei es zu einem Schusswechsel gekommen, bei dem ein Polizist am Arm getroffen wurde, teilte die Karlsruher Behörde am Mittwochnachmittag mit.
Strobl: Konsequentes Vorgehen gegen "staatsfeindliche Leute"
Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) warnte bei einem Besuch des Tatorts vor der sogenannten Reichsbürger-Szene und kündigte weiteres konsequentes Vorgehen an. "Das sind staatsfeindliche, sehr gefährliche, gewaltbereite Leute, die auch eine hohe Waffenaffinität haben", sagte der CDU-Politiker.
Der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck (SPD) hat gemeinsam mit Innenminister Strobl das Wohngebiet besucht. Er sagte dem SWR, man müsse die Bedrohung durch die Szene ernst nehmen.
Strobl bestätigte zudem einen Zusammenhang zwischen den bundesweiten Durchsuchungen am Mittwochmorgen und der Razzia im Dezember, bei der mehr als zwei Dutzend Männer und Frauen festgenommen worden waren. Eine sogenannte Besondere Aufbauorganisation (BAO) gehe bundesweit gegen die Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" vor, sagte er. "Im Dezember ist da sozusagen die erste Welle gewesen und heute ist es die zweite Welle mit entsprechenden polizeilichen Maßnahmen."
Einsatzort im Stadtteil Ringelbach weiträumig abgesperrt
Der Einsatz in Reutlingen sei "mit höchster Professionalität" durchgeführt worden, lobte Strobl. Die Beamten hatten die Straßen rund um den Einsatzort im Stadtteil Ringelbach weiträumig abgesperrt. Weder Fahrzeuge noch Fußgängerinnen und Fußgänger kamen durch. In weiten Teilen des Stadtgebiets war die Polizei in Zivilfahrzeugen unterwegs.
Politik reagiert geschockt
Thomas Strobl sagte dem SWR: "Das war ein lebensgefährlicher Einsatz. Gott sei Dank ist der Kollege aber nicht lebensgefährlich verletzt. Das ist immer eine schlimme Sache, wenn ein Polizeibeamter durch eine Schussabgabe verletzt wird."
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bekräftigte nach dem Vorfall in Reutlingen ihre Forderung nach einem verschärften Waffenrecht. "Wir müssen diese Extremisten konsequent entwaffnen", erklärte sie in Berlin.
Aus der SPD-Landtagsfraktion meldete sich Sascha Binder zu Wort. Er mahnte an: "Die Gewalt mit scharfen Waffen gegen unsere Polizeibeamten bei einer Durchsuchung in Reutlingen zeigt erneut, dass wir eine stärkere Kontrolle von Waffen in Deutschland brauchen. Kein einziger Reichsbürger in unserem Land darf eine Waffe besitzen!“, kommentierte seine Fraktion auf der Social-Media-Plattform Facebook.
Mutmaßlicher Schütze durfte Waffen besitzen
Laut Polizeipräsidium Reutlingen hatte die Bundesanwaltschaft den Einsatz organisiert. Das SEK wollte im Auftrag des Generalbundesanwalts im Ermittlungsverfahren gegen die sogenannte Gruppe Reuß die Wohnung einer bis dahin unverdächtigen Person in Reutlingen durchsuchen. Die Polizei sei informiert gewesen, dass der mutmaßliche Sportschütze - bisher als Zeuge gesehen - 22 legale Schusswaffen besitzt, so ARD-Terrorismusexperte Holger Schmidt.
Anwohner durch Einsatz wegen "Reichsbürger" verunsichert
Laut SWR-Informationen sind viele Anwohnerinnen und Anwohner in dem betroffenen Wohngebiet verunsichert. Zeugen berichteten von mehreren Schüssen. Wie oft tatsächlich geschossen wurde, ist noch unklar.
Anfang Dezember hatte es eine groß angelegte Anti-Terror-Razzia gegen "Reichsbürger" in mehreren Bundesländern, Österreich und Italien gegeben. Damals waren 25 Männer und Frauen festgenommen worden. In diesem Verfahren ermittelte die Bundesanwaltschaft außerdem gegen 30 weitere Menschen. Es hatte immer geheißen, es sei nicht ausgeschlossen, dass im Laufe der Zeit mehr Beschuldigte hinzukommen.
Die neuen Durchsuchungen stehen damit im Zusammenhang. Wie die dpa erfuhr, waren unterschriebene Verschwiegenheitserklärungen, die bei der ersten Razzia entdeckt wurden, ein wichtiger Ausgangspunkt für den Einsatz am Mittwoch. Zu den Unterzeichnern gehörten nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden mehrere Waffenbesitzer.
Generalbundesanwalt Peter Frank geht davon aus, dass die Ermittlungen am Ende in mehrere Anklagen münden werden. Aller Voraussicht nach würden verschiedene Schwerpunkte gebildet, sagte er am Mittwochabend bei seinem Jahrespresseempfang in Karlsruhe. Die Ermittlungen würden einige Zeit in Anspruch nehmen, in zwei, drei Monaten sei noch mit keiner Anklage zu rechnen. Die Ermittler hätten bei den Durchsuchungen Anfang Dezember und am Mittwoch "viel mitgenommen", das alles müsse ausgewertet werden.
Fünf weitere Beschuldigte in Deutschland und der Schweiz
Nach Angaben der Bundesanwaltschaft gibt es nun fünf weitere Beschuldigte. Gegen sie bestehe der Verdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Sie kommen aus Bayern, Niedersachsen, Sachsen und der Schweiz. Daneben wurden die Räumlichkeiten von 14 weiteren Personen durchsucht, die nicht als verdächtig gelten. Unter ihnen sind nach Informationen aus Sicherheitskreisen ein Polizist und ein Angehöriger der Bundeswehr. Weitere Festnahmen gab es laut Bundesanwaltschaft nicht. Auch eine weitere Durchsuchung in Reutlingen verlief demnach ohne Probleme.
"Reichsbürger" sind Menschen, die die Bundesrepublik und ihre demokratischen Strukturen nicht anerkennen. Auch in Baden-Württemberg ist ihre Szene breit gefächert. Die Zahl der erfassten Anhängerinnen und Anhänger liegt nach Angaben des Landesamts für Verfassungsschutz bei etwa 3.800 - Tendenz steigend. Rund zehn Prozent stuft die Behörde als gewaltorientiert ein. Die Szene besteht überwiegend aus Einzelpersonen, die nicht oder nur lose in Organisationen eingebunden sind.