In den vergangenen Jahren wurden immer mehr Fälle von sexualisierter Gewalt öffentlich, weil Opfer ihr Schweigen gegenüber den Tätern und der Gesellschaft gebrochen haben. Allein im Jahr 2021 wurden laut Bundeskriminalamt in fast 10.000 Menschen zu Opfern von schweren Fällen sexualisierter Gewalt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, weil noch immer sehr viele Betroffene die Taten nicht anzeigen.
Sie wissen oft nicht, mit wem sie darüber sprechen können, schämen sich, für das, was ihnen passiert ist. Um den Betroffenen eine Anlaufstelle zu bieten, wurde 1992 in Donaueschingen der Verein Grauzone e.V. gegründet.
Formen von sexualisierter Gewalt sind vielfältig
Unter sexualisierter Gewalt versteht man alle Formen von sexuellen Handlungen, die einer Person aufgezwungen werden und nicht einvernehmlich stattfinden. Begonnen bei Belästigung und Nötigung bis hin zur Vergewaltigung oder dem sexuellen Missbrauch. Dabei spielen oft Macht- und Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Täter und Opfer eine entscheidende Rolle. Viele Betroffene schweigen über die Tat - aus Scham und Angst, falsch verstandener Loyalität bis hin zu Unwissenheit.
Menschen früh stärken und sensibilisieren
Schon damals hatten die Gründerinnen von Grauzone e.V. nicht nur den Wunsch betroffenen Frauen und Kindern einen Ort der Sicherheit und Hilfe zu bieten, sondern in erster Linie auch Präventionsarbeit zu leisten. Noch heute setzt der Verein verstärkt auf die Schulung von Fachpersonal in Schulen, Kindertagesstätten aber auch in Freizeitvereinen und anderen Institutionen des alltäglichen Lebens. Das Ziel sei es, Kinder schon früh zu stabilisieren und zu stärken, um ihnen zu verdeutlichen, dass ihr Körper ihnen selbst gehört, sie Grenzen setzen dürfen, man ihnen zuhört und sie nein sagen dürfen.
"Wir machen Kindern klar: Du bist wichtig, du bist richtig und wenn es dir nicht gut geht, wird dir geholfen. Das würden wir gerne mit allen Kindern machen."
Grauzone e.V. sei aber eine Anlaufstelle für Menschen jeden Alters und Geschlechts, so Geschäftsführerin Angela Donno. Sie geht davon aus, dass fast 20 Prozent der Männer von sexualisierter Gewalt betroffen waren oder sind. Doch die wenigsten würden sich Hilfe suchen. Dabei könne man auch zu ihnen kommen, wenn die Tat schon lange zurück liegt, der Täter oder die Täterin bereits verstorben ist und man einfach über das Erlebte sprechen möchte.
Die meisten Taten kommen aus dem Umfeld
In den meisten Fällen stammt der Täter aus der eigenen Familie oder dem sozialen Umfeld des Opfers und ist männlich. Alleine im Jahr 2021 wurden laut Bundeskriminalamt 9.903 Fälle von sexualisierter Gewalt unterschiedlicher Form erfasst. Auf 9.387 Opfer, die als weiblich gelesen werden, kommen 599 männlich gelesene Betroffene. Die Dunkelziffer dürfte auf beiden Seiten deutlich höher sein.
Lernen zu erkennen, was normal ist und was nicht
Kerstin Huber war in ihrer Kindheit selbst von sexualisierter Gewalt betroffen. Schon als kleines Kind wird sie von ihrem eigenen Großvater missbraucht. Dieser habe zuvor schon wegen Vergewaltigung im Gefängnis gesessen. Als sich die Mutter eines anderen Mädchens wegen Missbrauchsvorwürfen an die Familie wendet, traut sich Kerstin Huber nicht, die Wahrheit über ihren Großvater zu erzählen.
"Mein Vater hat zu mir gesagt, wenn das stimmt, dass er mich missbraucht hat, dann bringe er meinen Großvater um. Aus Angst, dass er das wirklich tun würde und ich dadurch meine einzige Bezugsperson verliere, habe ich nicht die Wahrheit gesagt."
In der Folge legte Kerstin Huber aggressives Verhalten an den Tag, wird in der Schule verhaltensauffällig, fing an sich selbst an Armen und Beinen zu verletzten. Handlungen, die sie heute als stumme Hilfeschreie beschreibt.
"Die Schmerzen, die ich durch das Ritzen hatte, waren erträglicher als die seelischen Schmerzen.“
Als es bei einer Familienfeier zum Streit kommt und Kerstin Huber andeutet, was ihr passiert ist, wird sie von der eigenen Großmutter beschimpft. Laut ihr trage sie selbst Schuld an dem Verhalten des Großvaters. Ihre Mutter, die zu diesem Zeitpunkt die Familie verlässt, gibt vor, nichts mitbekommen zu haben. Auch die Ärzte, zu denen sie wegen ihrer Verletzungen an Armen und Beinen geht, suchen nicht nach den Gründen für dieses Verhalten.
"Ein Arzt hat mir gesagt, dass ich einen an der Klatsche hätte.“
Niemand sieht, was mit Kerstin Huber los ist. Niemand fragt, warum sie so ist, wie sie ist. Niemand nimmt sie ernst.
Grauzone e.V. lässt sie heute nach vorne blicken
Durch ihre Erwerbsunfähigkeit wird Kerstin Huber vor kurzem auf den Verein Grauzone e.V. aufmerksam, weil sie ihre Zeit dazu nutzen möchte, anderen zu helfen, denen ähnliches passiert ist. Für sie ist der Verein ein Ort, an den sie immer kommen kann, wenn ihre Geschichte sie einzuholen droht. Das sei vor allem bei Schicksalsschlägen der Fall, beispielsweise als ihr Vater überraschend gestorben ist, erzählt sie unter Tränen.
In solchen Momenten finde sie Halt bei ihrem Ehemann, ihrem Sohn, ihren Hunden und bei ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten. Die Folgen der sexualisierten Gewalt und des Vertrauensbruchs, den sie in ihrer Kindheit erfahren hat, begleiten sie stetig im Alltag. Eine Beziehung zu führen, sei da nicht leicht. Ihr Mann müsse so einiges mitmachen aber zeige doch immer viel Verständnis, wofür sie unglaublich dankbar sei. In einer Gesprächsrunde bei Grauzone e.V. möchte sie künftig auch anderen Mut machen, sie animieren über ihre Geschichte zu sprechen, ihnen zeigen, dass sie nicht alleine sind und dass es Menschen gibt, die sie verstehen.
"Hier habe ich gelernt, dass ich normal bin, dass ich mich völlig normal verhalte bei dem, was ich erlebt habe."
Bei Grauzone e.V. erwartet einen keine Gesprächstherapie, so Angela Donno, es geht darum herauszufinden, was den Menschen helfen kann und sie dabei zu unterstützen. Auf diesem Weg wurden beispielsweise schon Therapiesitzungen mit Pferden oder ein Thearpiehund ermöglicht, wo den Betroffenen die finanziellen Mittel gefehlt haben. Eine komplette Betreuung sei bei Grauzone e.V. personell und finanziell gar nicht zu leisten, vieles muss über Spenden finanziert werden. Man kümmere sich aber darum, dass die Betroffenen, an die für sie wichtigen Stellen weiter vermittelt werden, dass man sie begleite, wo sonst niemand sei und ihnen auf Augenhöhe begegne.
Sexualisierte Gewalt im Internet
Mit dem Internet kam auch eine neue Form der sexualisierten Gewalt, wie das ungefragte Versenden von Dickpics, Penisbilder, die über soziale Netzwerke verschickt werden. Ein anderes großes Thema sei das sogenannte Grooming, bei dem Erwachsene aus sexuellen Motiven im Netz Kontakt zu Minderjährigen aufnehmen. Laut Angela Donno würden entsprechendes Verhalten heute oft einfach abgetan, obwohl es sich dabei um Straftaten handelt. Das sei falsch. Da erkenne man Verhaltensweisen wieder, die man vor allem von früher kennt, wenn übergriffiges Verhalten als Spaß und nicht als schlimm abgetan wurde.
"Früher wurde das halt alles so unter den Tisch gekehrt, weil wenn das an die Öffentlichkeit gekommen wäre, das wäre ja ein Skandal gewesen. Ich denke, so ging es vielen früher und heute ist es die Angst vor dem Täter, der vielleicht in der Gesellschaft auch noch etwas zu sagen hat."
In 30 Jahren hat sich viel getan
Als der Verein Grauzone e.V. 1992 gegründet wurde, war die Vergewaltigung der Ehefrau noch nicht als Straftat im Gesetz verankert. Indem Frauen sich zunehmend für ihre Rechte einsetzen und diese einfordern, habe sich in diesem Bereich schon viel getan. Die Gesellschaft habe heute einen geschärfteren Blick, dennoch handelt es sich bei vielen immer noch um ein Tabuthema. Das gehe so weit, dass Menschen, die offen über ihre Geschichten sprechen, der Mund verboten werde, weil das Thema nicht in die Öffentlichkeit gehöre. Die Mitarbeitenden von Grauzone e.V. und vergleichbare Vereinen versuchen durch ihre Arbeit und ihr Engagement genau das zu ändern.
"Ich hätte mir gewünscht, dass es einen Verein wie Grauzone e.V. bei mir früher in Ostdeutschland auch gegeben hätte. Ich kann nur allen raten, sich schnell Hilfe zu suchen und das Erlebte nicht viele Jahre für sich zu behalten, wie ich es getan habe. Dadurch haben die Menschen die Chance auf ein besseres Leben."