Die Wohnungslosigkeit in Baden-Württemberg erreicht Höchststände: Laut Statistischem Bundesamt mussten Ende Januar 2024 mehr als 92.000 wohnungslose Menschen in einer Unterkunft übernachten. In Stuttgart wurden im Jahr 2023 rund 5.500 Menschen erfasst, die entweder wohnungslos oder obdachlos waren. Zum nationalen Aktionstag gegen Wohnungslosigkeit haben sich daher Verbände und soziale Einrichtungen auch in Stuttgart versammelt, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Mit dabei auch der 38-jährige Kai Mistol, der lange selbst obdachlos war und aus der Betroffenenperspektive erzählt hat.
SWR Aktuell: Herr Mistol, wie sind Sie in die Obdachlosigkeit gerutscht?
Kai Mistol: Durch den Tod eines Familienmitglieds, der schon Jahre zurückliegt. Der hat mich sehr aus der Bahn geworfen und mich lange Zeit beschäftigt. Ich hatte eigentlich schon fast mit meinem Leben abgeschlossen. Irgendwann hat es dann finanziell nicht mehr gereicht und dann bin ich halt auf der Straße gelandet. Eigentlich komme ich aus Freiburg, aber dort kannten mich zu viele Leute, und ich habe mich geschämt. Deshalb bin ich nach Stuttgart gekommen.
SWR Aktuell: Was ist Ihrer Meinung nach der Grund, warum auch viele andere Menschen von Obdachlosigkeit betroffen sind?
Mistol: Ich glaube, oft sind die starken Emotionen ein Grund. Man schämt sich für viele Dinge, wie zum Beispiel die Hilflosigkeit. Da ist es manchmal einfacher, vor sich hinzuleben, sich den starken Emotionen nicht zu stellen und sich einfach um gar nichts zu kümmern.
SWR Aktuell: Wie sah Ihr Tagesablauf aus?
Mistol: Ich habe meistens allein irgendwo übernachtet. Dann bin ich morgens aufgestanden und habe meine Sachen zusammengepackt. Ich hatte ein Schließfach bei der St. Maria-Kirche in der Tübinger Straße. Dort habe ich immer alles verstaut. Dann bin ich zur Caritas in der Olgastraße gegangen. Hier gab es die Möglichkeit etwas zu essen, zu duschen und die Kleidung zu wechseln. Mir war es immer sehr wichtig, ein normales Auftreten zu haben.
SWR Aktuell: Was hat Ihnen geholfen, aus der Obdachlosigkeit herauszukommen?
Mistol: Ich habe Freunde außerhalb des Milieus kennengelernt, die mir Mut zugesprochen haben. Die haben zu mir gesagt: "Kerle, du musst etwas verändern, du bist viel zu jung, um hier auf der Straße zu versauern." Und das habe ich mir zu Herzen genommen. Es ging aber nicht von heute auf morgen, das war ein schleichender Prozess. Sie haben mir immer wieder gut zugeredet.
Eines Tages bin ich dann in die Caritas reinspaziert und habe gesagt: "Leute, bitte helft mir! Ich lebe auf der Straße. Ich möchte davon weg." Jetzt lebe ich seit August in einer Wohngemeinschaft in Botnang, die ebenfalls von der Caritas organisiert wurde.
SWR Aktuell: Sie kritisieren Stereotypen im Fall von wohnungslosen Personen - warum sind die Ihrer Meinung nach gefährlich?
Mistol: Viele Menschen denken, man könne es anderen Menschen ansehen, in welcher Situation sie sich befinden - aber das stimmt nicht. Natürlich gibt es den "typischen" Obdachlosen, der dann den ganzen Tag auf einer Bank sitzt, sich besäuft und Drogen nimmt. Es gibt aber auch viele Leute, denen die Obdachlosigkeit sehr unangenehm ist. Die sich dann so verhalten, dass das möglichst nicht auffällt. Ich bin zum Beispiel viel in der Volkshochschule am Rotebühlplatz gesessen. Dort hatte ich einen Laptop, mit dem ich im Internet surfen konnte. So habe ich dann meine Tage verbracht. Hilfsbedürftig war ich trotzdem und bin froh, dass ich diese Hilfe bekommen habe.
SWR Aktuell: Wie geht es jetzt bei Ihnen weiter?
Mistol: Mit geht es eindeutig besser. Ich fühle mich inzwischen nicht mehr als "Mensch zweiter Klasse", sondern ich komme langsam wieder ins Leben zurück. Ich kann mir Gedanken machen, was ich mit meiner Zukunft anfangen möchte! Ich möchte auch unbedingt wieder arbeiten, am liebsten in der IT-Branche, wenn ich es mir aussuchen kann. Ich spreche gerade schon mit der Arbeitsagentur wegen einer Umschulung. Ursprünglich bin ich nämlich gelernter Buchbinder.