Als Martin Kohler und seine Kollegen von der Berufsfeuerwehr Stuttgart ankommen, brennt das Gebäude schon lichterloh. Der Fluchtweg ist für die rund 50 Bewohnerinnen und Bewohner, die im Schlaf überrascht wurden, abgeschnitten. Die Holztreppe steht in Flammen, auch der Hauseingang brennt. Viele sind aufs Dach geflüchtet, andere harren in ihrer Wohnung aus. Für einige gibt es kein Entrinnen: Sie verbrennen, ersticken oder springen aus Verzweiflung in den Tod. Schlimme Erinnerungen - sie bleiben Martin Kohler für immer erhalten.
Geißstraße Stuttgart: Größte Brandkatastrophe seit Zweitem Weltkrieg
Es war die größte Brandkatastrophe in Stuttgart nach dem Zweiten Weltkrieg: In der Nacht zum 16. März 1994 hat ein Brandstifter in einem mehrstöckigen Haus der Geißstraße 7 mitten in der Stuttgarter Altstadt ein Feuer gelegt. Sieben Menschen, darunter zwei kleine Kinder und eine hochschwangere Frau, kamen dabei ums Leben. 16 weitere Bewohnerinnen und Bewohner wurden zum Teil schwer verletzt. Die schrecklichen Bilder der Nacht trägt Feuerwehrmann Martin Kohler noch immer in seinem Kopf. Er war beim Einsatz vor 30 Jahren dabei.
Für die Einsatzkräfte ist schnell klar, dass eine Rettung über tragbare Leitern zu lange dauern würde. Die verwinkelten Gassen in der Stuttgarter Altstadt erschweren den Einsatz. Die Feuerwehr entscheidet sich deshalb, direkt das Sprungpolster zu verwenden. Martin Kohler muss die Opfer beim Springen aus dem Gebäude auffangen.
Bewohner verbrennen oder springen verzweifelt aus dem Haus
Eine Szene brennt sich dem Feuerwehrmann besonders ins Gedächtnis: "Eine Frau sitzt auf dem Fenstersims und wird entweder bewusstlos oder fällt in der Panik aus dem Fenster." Beim Sturz prallt sie auf eine Laterne in der Fußgängerzone und zieht sich dabei tödliche Verletzungen zu.
Andere Bewohnerinnen und Bewohner können sich durch den Sprung auf das Polster retten. Dann geht es für Martin Kohler ins Gebäude. Während er und seine Kollegen sich auf allen Vieren Stockwerk um Stockwerk hochkämpfen, ertasten sie zwischen verbranntem Schutt auch die Leichen.
Brandkatastrophe sorgt für psychische Belastung bei Feuerwehr
Diese Bilder belasten Martin Kohler und seine Kollegen. Nach dem Einsatz führen sie viele Gespräche, um das Erlebte zu verarbeiten. Wer Bedarf hat, bekommt auch professionelle Hilfe. Für den Feuerwehrmann ist es der bisher dramatischste Einsatz seiner Berufslaufbahn. Ein derartiges Ausmaß an Leid, Angst und Tod hat Martin Kohler bis dahin noch nie gesehen.
Brandstifter legt Feuer in der Stuttgarter Altstadt
Erst ein Jahr später wird der damals 25-jährige Brandstifter gefasst, nachdem er auch in Esslingen in mehreren Häusern ein Feuer gelegt hatte. Vor dem Hintergrund der rechtsradikalen Übergriffe auf Ausländer in Rostock, Hoyerswerda, Mölln und Solingen Anfang der 1990er gehen die Ermittler auch bei dieser Tat von einem fremdenfeindlichen Übergriff aus. Das Gericht erklärt den Täter für psychisch krank und verurteilt ihn zu 15 Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung.
Ob die Tat tatsächlich einen rassistischen Hintergrund hatte, bleibt bis heute umstritten. Im Haus hatten damals überwiegend Ausländer in ärmlichen Verhältnissen gelebt. Offiziell waren die kleinen Räume im Haus an 27 Menschen vermietet. Wie die Ermittlungen ergaben, waren es in Wirklichkeit aber fast doppelt so viele, die dort zu Wucherpreisen in Untermiete wohnten.
Stiftung Geißstraße will Erinnerungen an Brand wachhalten
Dass in dem Gebäude schon wenige Monate nach dem Brand die Stiftung Geißstraße gegründet wurde, freut Martin Kohler. Das Ziel der Stiftung ist laut ihrem Gründer Michael Kienzle, Menschen in Not aus aller Welt aufzunehmen und das interkulturelle Miteinander in der Stadt zu fördern.
Die Erlebnisse der Nacht vom 16. März 1994 hat der erfahrene Feuerwehrmann mittlerweile verarbeitet - wenn auch nicht auch nicht vergessen. "So viele Tote und Schwerverletzte nach einem Feuer gab es in Stuttgart seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Und wir hoffen, dass sowas auch nie mehr vorkommen wird."