Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sieht, wenn es um die Leistungsprobleme bei Grundschülern geht, neben dem Staat auch die Eltern in der Pflicht. Das hat er in den vergangenen Monaten immer wieder klar gemacht. Der Wissensdurst müsse aus den Elternhäusern heraus gefördert werden, sagt er. Außerdem bemängelt er, dass manche Eltern ihre Pflicht zur Erziehung zu wenig wahrnähmen.
Angesichts der schlechten Pisa-Ergebnisse spricht Kretschmann davon, dass Kinder heute ganz anders aufgezogen würden als früher, der Bildungs- und Leistungswille habe sich verändert. Außerdem sei der Einfluss der Politik begrenzt. "Ob Eltern vorlesen, steht nicht in unserer Macht, ist aber sehr relevant", so Kretschmann im Dezember wörtlich.
Was sagen die Vorsitzende einer Lehrergewerkschaft, eine Bildungswissenschaftlerin, ein Schüler- und ein Elternvertreter zu diesen Aussagen? SWR Aktuell hat nachgefragt:
- GEW-Landesvorsitzende: Bildung müsste Chefsache sein
- Schülervertreter: Erziehung ist Sache der Eltern
- Elternbeirat: Politik muss Bildungsgerechtigkeit herstellen
- Wissenschaftlerin: Brauchen ein widerstandsfähiges Bildungssystem
GEW-Landesvorsitzende: Bildung müsste Chefsache sein
Die Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Bildung und Erziehung (GEW), Monika Stein, ärgert sich über Kretschmanns Äußerungen. "Damit verabschiedet er sich vom Gedanken der Bildungsgerechtigkeit", sagt Stein. Es dürfe eben nicht sein, dass die Bildungschancen eines Kindes davon abhingen, welche Ressourcen die Eltern hätten. Seien diese nicht vorhanden, dann sei das für den Ministerpräsidenten offenbar Pech. "Das finde ich, ehrlich gesagt, relativ erschütternd", so Stein weiter.
Nach Auffassung der GEW-Landesvorsitzenden versuchen die meisten Eltern, das Beste für ihre Kinder zu erreichen. "Es gibt aber auch Eltern, die nicht die Zeit oder die Möglichkeiten haben, ihre Kinder so zu unterstützen, wie sie es eigentlich gerne würden." Es geht hier laut Stein zum Beispiel um sprachliche Hürden oder um Eltern, die selbst keinen Schulabschluss haben. Manche Familien lebten in beengten Verhältnissen, andere hätten mehrere Kinder zu unterstützen. Da könne man sich oft nicht in Ruhe hinsetzen und etwas vorlesen.
Mehr Studienplätze und bessere Bezahlung gefordert
Für Stein müssen vor allem frühkindliche Bildung und die Grundschulen stärker in den Fokus rücken. "Die Landesregierung benennt hier die richtigen Punkte, aber das reicht nicht. Es muss auch investiert werden." Es brauche mehr Erziehende und Lehrkräfte. Stein räumt ein, dass sich die Landesregierung hier angesichts des Fachkräftemangels in einer schwierigen Lage befindet. Sie fordert deshalb mehr Studienplätze für das Grundschullehramt und eine bessere Bezahlung der Lehrkräfte. "Wir sind eins der drei letzten Bundesländer, das die Grundschullehrkräfte schlechter bezahlt als andere Lehrkräfte", sagt Stein. Das habe auch etwas mit Anerkennung zu tun.
Natürlich sei Kretschmann Ministerpräsident und nicht Kultusminister. "Aber er ist der Regierungschef und wenn der Regierungschef nicht versteht, dass in der derzeitigen Situation Bildung Chefsache sein oder zumindest oberste Priorität haben sollte, dann hat er die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt", stellt die GEW-Landesvorsitzende fest.
Schülervertreter: Erziehung ist Sache der Eltern
Der Vorsitzende des Landesschülerbeirats, Berat Gürbüz, stimmt Ministerpräsident Kretschmann teilweise zu. "Die Eltern müssen mit in die Pflicht genommen werden", sagt Gürbüz. Sie sollten Kinder und Jugendliche dazu ermutigen, wissbegierig zu sein und nach Neuem zu streben. Da gebe es auch genug Möglichkeiten. "Statt einer Belohnung dafür, im Haushalt mitzuhelfen, könnte es zum Beispiel eine Belohnung dafür geben, wenn man ein Buch gelesen hat", schlägt Gürbüz vor.
Vorwurf: Schule bremst Bildungswillen junger Menschen oft aus
In Bezug auf den von Kretschmann angesprochenen Bildungs- und Leistungswillen wirkt die Schule nach Meinung von Gürbüz oft wie ein Bremsklotz. Viele Schülerinnen und Schüler hätten immer weniger Lust, in die Schule zu gehen, weil diese zu wenig auf ihre Bedürfnisse eingehe und auf die Welt außerhalb der Schultore vorbereite. "Die schlechten Ergebnisse von Bildungsstudien haben aus meiner Sicht auch damit zu tun, dass die Inhalte im Unterricht nicht mehr attraktiv genug oder sogar veraltet sind", sagt Gürbüz.
Er fordert, es müssten im Unterricht auch alltagsnahe Themen behandelt werden wie beispielsweise Finanzen oder Steuerrecht. Zusätzlich gehe es um die Art und Weise, wie unterrichtet werde. "Bei 45 oder 90 Minuten Frontalunterricht am Stück kommt nur schwer Motivation auf", sagt Gürbüz. Stattdessen sollten digitale Möglichkeiten mehr genutzt werden. "Es wird doch da spannend, wo man nicht mehr ein Geschichtsbuch über Napoleon liest, sondern ein Avatar uns davon erzählt", sagt Gürbüz.
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Die Wirtschaft in Baden-Württemberg sorgt sich um die digitalen Kompetenzen von Berufseinsteigern. Das liege auch an schlecht geschulten Lehrkräften, sagt der Landesschülerbereit.
Gürbüz spricht sich für kostenlose Lektürenhilfen aus
Gürbüz beklagt aber auch die fehlende Bildungsgerechtigkeit in Baden-Württemberg. "Wenn deine Eltern genug Geld haben, dann können sie dir Nachhilfe bezahlen. Und wenn sie besser gebildet sind oder mehr Zeit haben, dann können sie dir helfen", sagt der Schülervertreter. Das sei aber nicht bei allen Eltern der Fall. "Ich habe einen Vater nichtdeutscher Herkunft, von dem ich mit keiner Unterstützung rechnen konnte, und auch meine Mutter konnte mir nur sehr begrenzt helfen", sagt Gürbüz. "Ich würde definitiv sagen, dass das für mich ein Nachteil war."
In Sachen Bildungspolitik ist Gürbüz überzeugt: "Da kann die Politik mehr machen." Der Landesschülerbeirat Baden-Württemberg spreche sich für mehr Ganztagsschulen und Vorleseoffensiven an den Grundschulen aus. Außerdem sei er dafür, dass Unterrichtsmaterialen oder Lektürenhilfen, die gebraucht werden, kostengünstiger oder gar umsonst bereitgestellt werden.
Negatives Verhalten muss zurückgespiegelt werden
Kretschmanns Beobachtung, dass manche Eltern ihre Pflicht zur Erziehung zu wenig wahrnehmen, teilt Gürbüz. Er berichtet von seinen Erfahrungen als Jugendbegleiter an einer Grundschule: "Da gab es auch Kinder, die offenbar weniger streng erzogen wurden und dann im schulischen Kontext negativ aufgefallen sind." Das müsse man dann als Lehrkraft den Eltern zurückspiegeln. Die müssten wiederum in die Pflicht genommen werden und dafür sorgen, dass sich das Verhalten des Kindes ändere. "Erziehung ist nicht Aufgabe der Schule, die kann dabei nur unterstützen."
Elternbeirat: Politik muss Bildungsgerechtigkeit herstellen
Der Vorsitzende des Landeselternbeirats, Sebastian Kölsch, stimmt Ministerpräsident Kretschmanns Aussagen zum veränderten Bildungs- und Leistungswillen zu. "Mir fällt dazu spontan eine Karikatur ein, die ich mal gesehen habe", sagt Kölsch. "Ihre Aussage war: Wenn früher ein Kind mit einer Fünf nach Hause gekommen ist, haben die Eltern mit dem Kind geschimpft - heute schimpfen sie mit dem Lehrer." Kölsch glaubt, dass sich die Erziehung verändert hat. "Eltern arbeiten grundsätzlich mit weniger Druck und dadurch hat vielleicht der Leistungswille ein bisschen nachgelassen."
Kölsch sagt aber, die Landespolitik dürfe nicht alles auf die Eltern abwälzen. "Es geht zum Beispiel häufig nicht darum, ob die Eltern vorlesen wollen oder nicht, sondern ob sie es können." Auch bei den Hausaufgaben könnten nicht alle Elternhäuser im gleichen Maße unterstützen. Kölsch verweist in diesem Zusammenhang auf den aktuellen IQB-Bildungstrend. Daraus gehe hervor, dass die Bedingungen in den Elternhäusern in Baden-Württemberg die Bildungsergebnisse stärker beeinflussten als in anderen Bundesländern. "Das ist Aufgabe der Politik, das auszugleichen", sagt Kölsch.
Ausbau von Ganztagsschulen "komplett verschlafen"
Die Lösungen liegen laut Kölsch auf der Hand und sind seit Jahren bekannt. Zum Beispiel habe Baden-Württemberg den Ausbau von Grundschulen zu Ganztagsschulen "komplett verschlafen". Andere Bundesländer seien hier viel weiter. Da nun der Anspruch auf Ganztagsbetreuung ab 2026/2027 drohe, versuche man das jetzt möglichst schnell aufzuholen, so Kölsch. "Aber man hätte da über viele Jahre hinweg viel mehr tun können und das rächt sich jetzt - gerade bei der Lesekompetenz."
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BW-Ministerpräsident Kretschmann sieht die Gründe für die schlechten PISA-Ergebnisse in einer "Änderung der Welt". Henning Otte aus der SWR-Redaktion Landespolitik kommentiert.
Kölsch verweist darauf, dass das Kultusministerium zum laufenden Schuljahr in Grundschulen verpflichtende Leseförderung eingeführt hat. Das heißt, die Schülerinnen und Schüler lesen mindestens zwei Mal pro Woche für mindestens 20 Minuten. "Das ist ein guter Anfang", sagt Kölsch. Er macht aber auch klar, dass das nur den jetzigen und künftigen Grundschulkindern helfen kann. Beim aktuellen IQB-Bildungstrend und der neuen Pisa-Studie hätten aber die Neuntklässler bei der Lesekompetenz schlecht abgeschnitten. "Die Versäumnisse, die diese Kinder haben, die liegen neun Schuljahre zurück", sagt Kölsch.
Wissenschaftlerin: Brauchen ein widerstandsfähiges Bildungssystem
Die Bildungswissenschaftlerin Anne Sliwka von der Universität Heidelberg bestätigt, dass die Haltung von Eltern eine Rolle spielt. Wenn diese zum Beispiel einen gewissen Schulabschluss von ihren Kindern erwarteten, "hat das schon Einfluss auf den Bildungserfolg", sagt sie. Dass der Ministerpräsident offenbar denkt, alle Eltern könnten ihren Kindern vorlesen, hält sie dagegen für naiv. "Wir wissen, dass der Bildungsstand und auch die Bildungsentwicklung von Kindern und Jugendlichen in sehr hohem Maße geprägt sind vom sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie", sagt Sliwka. Das zeigten Daten weltweit. Besonders entscheidend sei der Schulabschluss der Mutter.
"Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir ein widerstandsfähiges Bildungssystem schaffen müssen", erklärt Sliwka. Was die Familien nicht leisten können, muss ihrer Auffassung nach der Staat leisten. In diesem Zusammenhang verweist die Bildungswissenschaftlerin auf Schulsysteme in anderen Ländern, die sich in den vergangenen zehn Jahren "völlig neu auf eine heterogener werdende Gesellschaft eingestellt haben".
Verbindlicher Bildungsplan für Kitas notwendig
Aus Sicht von Sliwka macht es sich Ministerpräsident Kretschmann zu einfach. "Wir sehen, dass da, wo die Entkopplung von sozialer Herkunft und Schulerfolg gelingt, massiv in die Vorschulen und Schulen investiert wurde", sagt die Bildungswissenschaftlerin. Außerdem hätten die Vorschulen und Kitas in diesen Regionen verbindliche Bildungspläne, Kinder würden individuell gefördert und Eltern besser an die Hand genommen.
Sliwka plädiert deshalb auch in Baden-Württemberg für einen verbindlichen Bildungsplan für die Kitas, zumindest im Vorschuljahr. Außerdem müssen ihrer Meinung nach die Grundschulen deutlich gestärkt und die Programme zur Elternbildung ausgebaut werden. "Die Landesregierung ist auf dem richtigen Weg", sagt Sliwka. Aber die Entwicklung müsse möglichst bald und vor allem stark beschleunigt werden angesichts der gesellschaftspolitischen Situation.
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