Der freigestellte Inspekteur der baden-württembergischen Polizei soll nach Willen der Staatsanwaltschaft zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt werden. Außerdem wurde eine Geldauflage von 16.000 Euro gefordert. Das hat ein Sprecher mitgeteilt. Das Geld soll zur Hälfte an eine Beratungsstelle für Frauen, betroffen von sexueller Gewalt, und einen Verein für die Resozialisierung von Straftätern gehen.
Verteidigung plädiert wohl auf Freispruch
Die Verteidigerin des Angeklagten Andreas R. wollte am Freitag nicht mitteilten, auf was sie plädierte. Zu Journalisten sagte sie im Vorbeigehen: "Das können Sie sich denken." Prozessbeobachter gehen davon aus, dass die Verteidigung auf Freispruch plädierte. Die Anwältin hatte schon zu Prozessbeginn eine Erklärung verteilt, in der sie der heute 34-jährigen Nebenklägerin vorwirft, bewusst Kontakt zu älteren und beruflich höher gestellten Männern bei der Polizei zu suchen, "um die Kontakte zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen". Weil bereits weite Teile des Verfahrens in den vergangenen zweieinhalb Monaten wegen des Persönlichkeitsschutzes nicht öffentlich verhandelt worden sind, mussten auch die Plädoyers ohne Öffentlichkeit gehalten werden.
Staatsanwaltschaft hielt sich mit Stellungnahmen zurück
Die Staatsanwaltschaft hielt sich während des gesamten Verfahrens mit Stellungnahmen zurück, auch im Prozess überließ die Anklagebehörde weitestgehend den Vertretern der Nebenklage das Feld. Die zentrale Frage in diesem Verfahren lautete: Hat Andreas R. seine höhere berufliche Stellung ausgenutzt, um die Frau zu sexuellen Handlungen zu bringen? Die Staatsanwaltschaft sagte dazu "Ja" und hat den Inspekteur wegen sexueller Nötigung nach Paragraf 177 Strafgesetzbuch angeklagt.
Hierbei macht sie sich zunutze, dass das Sexualstrafrecht 2016 verschärft worden ist. Seitdem ist es keine zwingende Voraussetzung mehr, dass ein Opfer "erkennbaren Widerstand" zeigt. Stattdessen wird auch bestraft, "wenn der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht". In diesem Fall fürchtete die Beamtin nach eigener Aussage, nicht in den höheren Dienst befördert zu werden, wenn sie sich den Wünschen des Vorgesetzten widersetzt.
Nebenklage sprich von Täter-Opfer-Umkehr
Kurz vor dem Ende des Prozesses hat die Nebenklage dem Inspekteur der Polizei "victim blaming" vorgeworfen - also die Vertauschung von Täter- und Opfer-Rolle. Der Angeklagte habe sich durch eine Verkehrung der Rollen verteidigen lassen, heißt es in einer Erklärung, die der Nebenklage-Anwalt, der die Polizistin vertritt, am Freitag an Journalisten verteilte. Der Inspekteur sei nach dessen Darstellung das Opfer und die Nebenklägerin die Täterin. Die Behauptung, die Polizistin habe aus beruflichem Vorteil Kontakt zu höhergestellten Männern gesucht, sei "schamlos", hieß es in der Erklärung.
Für den ranghöchsten uniformierten Polizisten geht es auch um die berufliche Zukunft: Bei einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und mehr würde der heute 50 Jahre alte Inspekteur seinen Beamtenstatus verlieren und aus dem Dienst entfernt werden. Bleibt es unter einem Jahr, hängt seine weitere berufliche Laufbahn vom weiteren Disziplinarverfahren im Innenministerium ab. Das würde dann nach dem Urteil wieder aufgenommen. Das Urteil soll am 14. Juli gesprochen werden.
Gegen den ranghöchsten Polizisten in Baden-Württemberg läuft ein Prozess wegen sexueller Nötigung. Ein Einzelfall? Nein, sagen eine Ex-Polizistin und ein Polizeiforscher. Sexismus gehöre bei der Polizei zum Alltag:
Was passierte in der November-Nacht vor der Stuttgarter Bar?
Rückblick: Es ist Freitag, der 12. November 2021, um 14:30 Uhr, als die Anwärterin auf den höheren Dienst für ein Personalgespräch ins Büro des Inspekteurs im Innenministerium kommt. Andreas R. erklärt der Frau, das Polizeipräsidentin Stefanie Hinz ihn gebeten habe, sie bei ihrem Aufstieg als "Mentor" zu begleiten. Bei dem Gespräch wird Sekt getrunken. Gegen 22 Uhr ziehen der Inspekteur, die jüngere Beamtin und ein weiterer Kollege in eine nahegelegene Kneipe, um weiter zu trinken. Kurz vor Mitternacht bietet der Kollege der Frau an, sie nach Hause zu fahren. Doch sie lässt sich von Andreas R. dazu bewegen, noch in eine Bar in Bad Cannstatt zu gehen. Der Inspekteur soll hier Stammgast und auch schon öfter in weiblicher Begleitung gewesen sein.
Die beiden gehen gegen 3 Uhr nachts vor die Tür. Im Prozess hat die Polizistin als Zeugin unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgesagt. Doch so viel weiß man: Die Frau schildert die Situation in der Gasse neben der Kneipe so, dass der Inspekteur sie genötigt habe, ihn intim zu berühren. Sie habe zwar Ekel empfunden, sich aber wegen möglicher beruflicher Nachteile nicht getraut, sich zu widersetzen. Andreas R. sagte dagegen nach SWR-Informationen in einer ersten Befragung bei der Polizei, sie habe ihn beim Urinieren überrumpelt und intim berührt. Im Prozess dazu kein Wort vom Inspekteur. Der Angeklagte schweigt und beobachtet das Verfahren - an seiner Seite: seine Frau, mit der er einen Sohn hat.
Ein Audio-Mitschnitt als zentrales Beweismittel der Anklage
Anders als im Prozess hat sich Andreas R. nur wenige Tage nach dem Treffen in der Bar im November 2021 ausgiebig in einem Skype-Telefonat mit dem mutmaßlichen Opfer geäußert. Von diesem Video-Gespräch hat die Frau heimlich einen Audio-Mitschnitt mit dem Smartphone gefertigt. Es wurde im Prozess ohne Öffentlichkeit angehört. Nach SWR-Informationen versuchte der Inspekteur die junge Frau darin zu überreden, sich mit ihm einzulassen. Demnach versichert er in dem Gespräch mehrfach, dass sie durch den privaten Kontakt auch beruflich nur Vorteile haben werde. Er werde ihr helfen, sie in den höheren Dienst zu bringen.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Mitschnitt die Tatmotivation dokumentiert. Zwei Tage später berichtet die junge Frau Polizeipräsidentin Stefanie Hinz von den Geschehnissen in und vor der Bar und dem Videotelefonat. Kurz danach verbietet Hinz dem Inspekteur das Führen seiner Dienstgeschäfte und gibt die Informationen an die Staatsanwaltschaft. Man kann davon ausgehen, dass sowohl Staatsanwaltschaft als auch Nebenklage in ihren Plädoyers den Audio-Mitschnitt als zentrales Beweismittel anführen werden. Die Verteidigung hatte noch versucht, die Verwendung des Audio-Files zu unterbinden, weil die Polizistin es nicht hätte mitschneiden dürfen - ohne Erfolg.
Prozess um sexuelle Nötigung bei Polizei BW Rückschlag für Inspekteur: Telefonat als Beweismittel zugelassen
Im Prozess um sexuelle Nötigung gegen den ehemaligen Polizei-Inspekteur in BW wurde das wohl wichtigste Beweismittel zugelassen - aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit angehört.
Unklar was vor einer Stuttgarter Kneipe geschah
Eine Überwachungskamera hat Andreas R. und die Polizistin in der Nacht zum 13. November stundenlang gefilmt. Das Video wurde im Prozess in voller Länge öffentlich gezeigt. In den ersten zwei Stunden der Aufnahmen ist zu sehen, wie der Inspekteur mit der Beamtin eng zusammensitzt. Sie küssen sich, umarmen sich und tauschen Zärtlichkeiten aus - oft neigt der Inspekteur den Kopf zu ihr herüber.
Doch es ist weiter offen, was vor der Tür der Kneipe geschah, als es zu intimen Berührungen gekommen sein soll. Vor der Tür gab es keine Überwachungskamera. Auch nach der Rückkehr der beiden von der Straße ist kaum eine Veränderung im Verhalten feststellbar.
Verteidigung sieht Überwachungsvideo als Beweis für die Unschuld
Während die Staatsanwaltschaft und die Nebenklage argumentieren, die Frau habe sich nicht getraut, sich gegen den Chef zu wehren, sieht die Verteidigung das ganz anders. "Sie suchte und verlangte nach seiner Aufmerksamkeit und Zuneigung", erklärte die Verteidigerin des Inspekteurs. Das Video aus der Kneipe sei ein Beweis für seine Unschuld.
Allerdings sind auch so zahlreiche pikante Details im Prozess bekannt geworden, die nach und nach ein Bild ergeben. Im Jahr 2019 - also zwei Jahre vor dem jetzt angeklagten Fall - schickte der Inspekteur Nacktbilder von sich an eine Polizistin, die ebenfalls Anwärterin für den höheren Dienst war: Intimbilder, die er im Kinderzimmer des Sohnes aufgenommen haben soll.
Die politische Dimension des Falls Andreas R.
Der #Metoo-Fall erschüttert seit mehr als eineinhalb Jahren die Polizei und auch die Politik in Baden-Württemberg - ein Untersuchungsausschuss im Landtag nimmt seit September auch die Rolle von Innenminister Thomas Strobl (CDU) und die Beförderungspraxis in dem Ressort unter die Lupe.
Ende Mai hatte Innenminister Strobl im Landtag eine Rückkehr des Inspekteurs auf seinen Posten quasi ausgeschlossen. "Ich kann mir persönlich nur schwer vorstellen, dass es eine Rückkehr in das Amt des höchsten uniformierten Polizisten im Land geben kann." Da spreche er auch für sehr viele in der Polizei Baden-Württemberg. Strobl stellte klar: "Unabhängig vom Strafverfahren und dessen Ausgang liegen Sachverhalte auf dem Tisch, die weder mit der Polizei noch mit einer Führungsfunktion bei der Polizei vereinbar sind."