Frühjahr der Unruhe

Neue Protestkultur: Nur pöbeln, randalieren, hetzen? Oder doch viel mehr?

Stand
Autor/in
Hannah Vogel
Hannah Vogel ist Teil des Teams von "Zur Sache! Baden-Württemberg".

Politische Veranstaltungen werden verhindert, es wird gestritten und beleidigt: In Baden-Württemberg kocht bei Protesten die Volksseele. Ist das bedenklich? Ein Protestforscher analysiert die angespannte Lage.     

Hunderttausende Menschen haben in Baden-Württemberg in den ersten Monaten des Jahres demonstriert. Die einen wollen damit die Demokratie retten, die anderen ihrem Ärger Luft machen. Miteinander reden wollen die Demonstranten und Gegendemonstranten oft nicht mehr. Der Protestforscher und Historiker Philipp Gassert von der Universität Mannheim fordert Politikerinnen und Politiker deshalb auf, ihre "Hausaufgaben zu machen". Es gehe darum, symbolische Streitereien zu vermeiden und sich handlungsfähig zu zeigen, sagt er im Gespräch mit dem SWR. So könne man wieder Dampf aus dem brodelnden Kessel lassen.

In der SWR-Sendung "Zur Sache! Baden-Württemberg" forderte der Landrat des Zollernalbkreises, Günther-Martin Pauli (CDU), die Demonstrierenden auf, sich in den demokratischen Parteien zu engagieren. "Jede Partei freut sich jetzt vor der Kommunalwahl über Kandidatinnen und Kandidaten." Zudem setzt er auf Dialog mit den Menschen. "Ausgrenzung und Abgrenzung sei das eine, wo wir aber Verantwortung tragen, sollten wir mit allen Menschen reden", so Pauli.

Für Historiker Gassert sind die Proteste der vergangenen Wochen prinzipiell ein gutes Zeichen. "Wenn Menschen ihr Versammlungsrecht wahrnehmen und ihre Meinung auf der Straße kundtun, spricht das für die Lebendigkeit der Demokratie", sagt er. Überraschend sei, dass bei den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus die sogenannte schweigende Mehrheit mobilisiert habe werden können. "Das ist durchaus ungewöhnlich", meint Gassert.

Hier sehen Sie die Sendung "Zur Sache! Baden-Württemberg" zum Thema "Frühjahr der Unruhe - die polarisierte Gesellschaft":

Stuttgarter Stadtdekan: "Verrohung der Diskurskultur"

Die Fronten bei Demonstrationen sind aber oft verhärtet. Bäuerinnen und Bauern schreien Amtsträger teilweise nieder. Beim Kulturfest "Rottweil bleibt bunt" beleidigten sich Teilnehmende und Mitglieder eines Autokorsos mit AfD-Plakaten und Deutschland-Fahnen gegenseitig. "Wir sehen eine Verrohung der Diskurskultur, die nicht akzeptabel ist und die Demokratie tief beschädigt", sagt der katholische Stadtdekan in Stuttgart, Monsignore Christian Hermes, in der SWR-Sendung "Zur Sache Baden-Württemberg". So könne man nicht weitermachen.

Für die Verrohung der Diskurskultur macht Hermes die AfD mitverantwortlich. "Es gibt eine Lust an der Provokation", sagt er in Bezug auf die Partei. Für ihn habe das etwas sehr Kindisches. "Man randaliert in der Demokratie herum, hat aber eigentlich gar keine Lösungen." Die AfD radikalisiere sich seit ihrer Gründung immer weiter. "Wir haben es mit einer rechtsextremen und in großen Teilen faschistischen, menschenverachtenden Bewegung zu tun." Eine Partei, die das System einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung infrage stelle, sei für Christen nicht wählbar.

Protestforscher: "Gesellschaft ist gespalten"

Protestforscher Gassert beobachtet eine "breit aufgestellte völkisch-rassistische Bewegung" aus Politikerinnen und Politikern, bestimmten Medien, rechten Influencerinnen und Influencern und intellektuellen Millieus der neuen Rechten. Sie bedienten und triggerten Grundängste in der Bevölkerung wie die Furcht vor einer sogenannten Überfremdung oder die Angst, etwas hergeben zu müssen.

"Die Gesellschaft ist gespalten", sagt Gassert. Sie sei nicht mehr so homogen wie früher und schwerer durch gesellschaftliche Großorganisationen wie Parteien, Kirchen oder Gewerkschaften integrierbar. "Die Gesellschaft ist nicht mehr zu Kompromissen bereit und das ist ein Problem", so Gassert weiter.

Nach Corona: Unsagbares wird sagbar

Bei den Demonstrationen kommt es teilweise auch zu Gewalt. Trauriger Höhepunkt in dieser Hinsicht war der eskalierende Protest beim geplanten politischen Aschermittwoch der Grünen in Biberach. Demonstrierende hatten den Zugang zu der Veranstaltung blockiert, Politikerinnen und Politiker beschimpft und Einsatzkräfte verletzt. Wir müssten uns um unsere Demokratie Sorgen machen, wenn Politikerinnen und Politiker physisch und psychisch bedroht werden, sagt Gassert.

Einzelne Ereignisse, bei denen sich Aggressivität entlädt, können laut Gassert immer mal wieder vorkommen. Als Beispiel führt er das Blockieren einer Fähre mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) an Bord im Januar an. "Das gab es auch schon 1968, dass ein Ministerpräsident freigekämpft werden musste", sagt Gassert. Damals wurden der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) und sein Kultusminister Wilhelm Hahn (CDU) im Heidelberger Schloss von protestierenden Studenten belagert. Von der Aktion gegen Habeck hätten sich die Bauernverbände klar distanziert, hält Gassert fest. Im rechten Spektrum werde Gewalt dagegen gerechtfertigt oder heruntergespielt.

"Es hat sich was geändert im politischen System", so Gassert weiter. Seit der Corona-Pandemie könne man Dinge sagen oder tun, die lange nicht für möglich gehalten worden seien. Für Gassert hat das auch mit den sozialen Medien zu tun. "Da werden Hemmschwellen abgebaut und wir beobachten eine große Gewaltneigung - nicht allein im rechten Spektrum."

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Polizei für jedes Demo-Lager der "Gegner"?

Die Polizei steht oft zwischen den Fronten. Für Stuttgarts Stadtdekan Hermes verteidigt sie die Demokratie an vorderster Front. Polizistinnen und Polizisten trügen bei diesen Einsätzen ihre Haut zu Markte, begäben sich also in Gefahr.

"Jedes Lager nimmt uns mehr oder weniger als Gegner wahr. Wir schützen immer 'die Falschen' und das ist dann schon eine Belastung und auch eine Herausforderung", sagt Rainer Staib, der bei der Bereitschaftspolizei Baden-Württemberg Hundertschaften anführt. Ein kleiner Funke reiche manchmal, damit die Stimmung hochkoche.

Das Anti-Konflikt-Team der Polizei bei einer Demo in Rottweil.
Das "Anti-Konflikt-Team" der Polizei versucht bei einer Demo gegen den AfD-Parteitag in Rottweil zu deeskalieren.

Protestforscher: Polizei setzt auf Deeskalation

Die Polizei-Taktik bei Demonstrationen hat sich nach Auffassung von Gassert seit den 70er Jahren stark geändert. "Sie ist sehr viel deeskalierender und vorausschauender geworden. Die Polizistinnen und Polizisten wollen nicht mehr nur die Erfüllungsgehilfen des Staates sein", sagt Gassert. In diesem Zusammenhang verweist der Protestforscher auf das sogenannte Brokdorf-Urteil von 1985. Darin kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, dass friedfertige Bürger ein Recht auf Versammlungsfreiheit hätten. Dieses bleibe auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen Einzelner oder einer Minderheit zu rechnen sei. "Die Polizei muss einerseits die Gewalttätigen in ihre Schranken weisen und andererseits das Versammlungsrecht gewährleisten", sagt Gassert.

Bei Polizeieinsätzen bei Demonstrationen geht es laut Gassert immer um eine Risikoabschätzung. Politikerinnen und Politiker sollten seiner Meinung nach auch nicht völlig abgeschottet werden. "In den USA kommen Sie zum Beispiel gar nicht mehr an Politiker heran", sagt er. Bürgernähe sei dann nicht mehr möglich. Auch in Deutschland sei in den 70er Jahren wegen der Terrorgruppe der Roten Armee Fraktion (RAF) überreagiert worden. "So was wünsche ich mir nicht", sagt er.

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