Symbolbild | Zwei Bewohnerinnen eines Altenheims sitzen neben ihren Rollatoren auf roten Sesseln. Ihre Füße stecken in Sandalen und Hausschuhen.

Babyboomer-Anteil mit Pflegebedarf wächst

Droht der Pflege-Kollaps? Immer mehr Pflegebedürftige auch in BW

Stand
Autor/in
Annika Jahn

Von einem explosionsartigen Anstieg der Pflegebedürftigen hat Bundesgesundheitsminister Lauterbach Anfang der Woche gesprochen. Auch in Baden-Württemberg ist die Tendenz steigend.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat mit seiner Ankündigung Anfang der Woche einen Schock ausgelöst. Die Zahl der Pflegebedürftigen sei viel stärker gestiegen als erwartet. Im vergangenen Jahr seien rund 35.000 Pflegebedürftige mehr als in den Vorjahren üblich dazugekommen. Das hätten Berechnungen des Spitzenverbandes der Krankenkassen GKV ergeben. Der Grund: Die Babyboomer, die Kinder der besonders geburtenstarken Jahrgänge ab Mitte der 1950er- bis Ende der 60er-Jahre, werden nun nach und nach ebenfalls pflegebedürftig.

Lassen sich diese Zahlen auch auf Baden-Württemberg übertragen? Und was bedeutet es für Betroffene, wenn immer mehr Pflegebedürftige quasi miteinander um Plätze und Geld konkurrieren?

"Pflege macht arm": Wenn beide Partner Hilfe brauchen

Elisabeth Knörle und ihr Mann sind pflegebedürftig. Beide nutzen einen Rollstuhl und sind nicht mobil. Er hat Pflegestufe 5 und kann nichts mehr alleine. Sie betreut ihn - doch nach zahlreichen Stürzen und Osteoporose, geht auch bei ihr fast nichts mehr. Inzwischen hat sie Pflegestufe 3. Ein Pflegedienst versorgt die beiden ambulant. Trotzdem ist der Alltag für die 88-Jährige und ihren Mann aus Brackenheim im Landkreis Heilbronn ein täglicher Kampf.

"Anfangs habe ich für ihn alles gemacht. Ich habe ihn gewaschen, angezogen und sogar mal sechs Wochen im Bett gefüttert. Aber irgendwann haben meine Knochen nicht mehr mitgemacht", erzählt Elisabeth Knörle. Für sie sei die Situation äußerst schwierig. Für jeden Handgriff brauche sie extrem viel Zeit. "Meine Kräfte werden sehr strapaziert", sagt sie.

Pflege macht arm.

Der Eigenanteil, den auch die Knörles für ihre Pflege zahlen müssen, ist hoch. Den Konkurrenzkampf um Pflegemittel und höhere Pflegestufen merken auch sie.

"Pflege macht arm", sagt Elisabeth Knörle. Das hätten auch sie und ihr Mann schmerzhaft feststellen müssen. Und das, obwohl sie nur Lebensmittel und Medikamente einkauften und ihre laufenden Kosten bezahlten. Durch ihre Krankheit habe die 88-Jährige 10 Kilo abgenommen und brauche eigentlich neue Kleidung. Das sei aber finanziell nicht drin.

Steigender Pflegebedarf: Bundesgesundheitsminister schlägt Alarm

Der Spitzenverband der Krankenkassen GKV hatte Anfang der Woche Zahlen zum Anstieg der Pflegebedürftigen in Deutschland für das vergangene Jahr veröffentlicht. Bundesgesundheitsminister Lauterbach zeigte sich daraufhin alarmiert. Für ihn seien die Babyboomer der Grund für den Trend. Die ersten von ihnen seien gleichzeitig mit ihren Eltern auf Pflege angewiesen.

Eine umfassende Finanzreform der Pflegeversicherung in der Legislatur der Ampelkoalition bis voraussichtlich September 2025 wahrscheinlich nicht mehr zu machen sein, hieß es. Trotz der daraus resultierenden Probleme 

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Pflege: Zahlen für BW erst Ende des Jahres erwartet

Amtliche Zahlen vom Statistischen Bundesamt können den bundesweit explosionsartigen Anstieg von Pflegebedürftigen bisher nicht bestätigen, weil sie noch nicht vorliegen. Sie setzen sich aus den Zahlen der Bundesländer zusammen. In Baden-Württemberg werden diese Zahlen laut Statistischem Landesamt für 2023 voraussichtlich erst im Dezember vorliegen. Die letzte Erhebung auf Landesebene hatte ergeben, dass es in Baden-Württemberg Ende 2021 gut 540.400 Pflegebedürftige gab. Die meisten von ihnen (448.642) wurden ambulant versorgt.

Die Tendenz ist auch hier steigend - aus demografischen Gründen. Ob der Anstieg jedoch auch in Baden-Württemberg für das Jahr 2023 so sprunghaft war, wie bundesweit vom Spitzenverband der Krankenkassen prognostiziert, ist noch unklar. Bisher gibt es lediglich Vorausrechnungen, die aber ebenfalls einen starken Anstieg vorhersagen.

Sozialverband sieht Anzeichen für Pflegekollaps

Laut Statistischem Landesamt könnte die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2060 um 48 Prozent steigen. Fast 801.000 Pflegebedürftige gäbe es dann. Stefan Pfeil, stellvertretender Geschäftsführer des Sozialverbands Vdk, sieht darin Anzeichen für einen bevorstehenden Pflegekollaps: "Die Gefahr besteht natürlich, dass die Pflege dermaßen unter Druck gerät, dass es wahrscheinlich gar nicht mehr zu leisten ist."

Die Verhältnisse seien schon jetzt teilweise prekär. "Es ist so, dass wir wenige ambulante Dienste haben, die zu Hause unterstützen können, dass wir wenig Kurzzeitpflegeplätze haben, dass es auch stationäre Probleme gibt, weil man gar nicht die Pflegekräfte bekommt." All das führe zu großen Herausforderungen in der Zukunft.

Sozialverband VdK: große Gefahr zunehmender Altersarmut

Schon jetzt erhalte jeder vierte Pflegebedürftige Sozialhilfe. Das liege auch am hohen Eigenanteil, der in Baden-Württemberg zu zahlen sei. Im ersten Jahr liege der durchschnittliche Monatsbeitrag bei 2.900 Euro. Der Sozialverband VdK fordert deshalb, dass das Land wieder mehr Steuergelder in die Pflege gibt. Zum Beispiel durch die Förderung von Investitionskosten, wie bereits vor 2010. Ohne mehr Hilfe vom Staat steuerten viele Pflegebedürftige früher oder später in die Altersarmut.

Die durchschnittlichen Renten bei Männern lägen bei 1.427 Euro, bei Frauen seien es 859 Euro im Monat, so VdK-Geschäftsführer Pfeil. "Wenn Sie sich dann die Eigenanteile angucken und die bei über 2.900 Euro liegen, dann ist es Fakt, dass diejenigen, die im Alter pflegebedürftig sind, auf Sozialhilfe angewiesen sind."

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Für Elisabeth Knörle und ihren Mann müsste eine Pflegereform so schnell wie möglich kommen, um ihre Situation zu verbessern. "Das ist ein Kampf - ich führe ihn schon seit Jahren, damit die Erstattungen erhöht werden. Wenn man mehr Behandlung braucht, kann man es nicht finanzieren", sagt sie.

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