Sollen Eltern selbst entscheiden, wie es nach der Grundschule für ihr Kind weitergeht? Oder sollen sie der Empfehlung der Grundschullehrerinnen und -lehrer folgen? An der Tatsache, dass rund zehn Prozent der Grundschülerinnen und Grundschüler, die auf ein Gymnasium wechseln, keine Empfehlung dafür haben, entzündet sich erneut ein politischer Streit in Baden-Württemberg. Die FDP fordert zum wiederholten Mal eine verbindliche Grundschulempfehlung, die SPD dagegen sieht keinen Anlass dafür und betont, die Übergangszahlen seien stabil. Grüne und CDU hatten sich im Koalitionsvertrag auf eine unverbindliche Grundschulempfehlung festgelegt.
Weniger Eltern richten sich nach Grundschulempfehlung
Zwar lassen sich nach wie vor die meisten Eltern bei der freiwilligen Entscheidung für einen Wechsel ihrer Kinder auf eine weiterführende Schule vom Eindruck der Lehrkräfte leiten. Doch der Anteil derer, die das Heft selbst in die Hand nehmen und gegen die Empfehlung stimmen, hat leicht zugenommen. Von den Schülerinnen und Schülern, die auf ein Gymnasium wollen, haben rund 89 Prozent auch eine entsprechende Grundschulempfehlung - rund ein Prozent weniger als im Vorjahr. Das sei noch keine signifikante Veränderung, sagt das Kultusministerium.
Insgesamt wechselten zum Schuljahr 2022/2023 rund 92.073 Schülerinnen und Schüler auf eine weiterführende Schule in Baden-Württemberg. Ungebrochen ist der Ansturm aufs Gymnasium: Wie das Kultusministerium am Dienstag mitteilte, wollten rund 45 Prozent der Grundschulkinder dorthin, was im Vergleich zum Vorjahr einem Zuwachs um 0,9 Prozentpunkte entspricht. Rund 33 Prozent wechselten demnach auf eine Realschule, gut 13 Prozent auf eine Gemeinschaftsschule. Einen Rekord-Tiefststand verzeichnen die Haupt- und Werkrealschulen mit rund fünf Prozent.
Entscheidung ist seit 2012 nicht mehr verbindlich
Die Empfehlung wird in Baden-Württemberg zu Beginn des 2. Schulhalbjahres der 4. Klasse zusammen mit den Halbjahreszeugnissen ausgegeben und orientiert sich vorwiegend an den Noten. Vor mehr als zehn Jahren hatte die damalige grün-rote Landesregierung entschieden, dass die Empfehlung nicht mehr verbindlich ist. Seit dem Schuljahr 2012/2013 gilt die neue Regelung. Die Eltern können sich seitdem über sie hinwegsetzen und ihr Kind etwa auf ein Gymnasium schicken, obwohl es dafür keine Empfehlung hat.
Lehrerverband VBE sieht "erhebliche Mehrbelastung"
Darunter leidet vor allem die Realschule. Nur gut die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler, die auf die Realschule wechselten, hatten eine Empfehlung für diese Schulart (53,5 Prozent). Bei der Werkreal- und Hauptschule liegt der Anteil bei 89,4 Prozent (Vorjahr: 89,9 Prozent). Die Realschule habe eine Sandwichposition zwischen der Haupt- und Werkrealschule einerseits und dem Gymnasium andererseits, sagte Gerhard Brand vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) am Dienstag. "In der schulischen Praxis führt dies allerdings zu einer erheblichen Mehrbelastung der Lehrkräfte an der Realschule", kritisiert der VBE-Bundes- und Landesvorsitzende. "Sie müssen bis zu drei Leistungsniveaus gleichzeitig unterrichten und wenn Inklusionskinder in der Klasse sitzen, kommt sogar noch ein viertes dazu." Eltern müssten besser beraten werden, vor allem, wenn ihr Wille von der Grundschulempfehlung abweiche.
Ähnlich sieht das Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne). Die Beratung der Eltern sei sehr wichtig. "Wir möchten dieses Beratungsangebot beim Übergang auf die weiterführende Schule weiter verbessern, indem wir die wissenschaftlich fundierten Lernstandserhebungen in der Grundschule erweitern", sagte sie. Mit einer besseren Datengrundlage solle Eltern und Lehrkräften bei der Entscheidung für die weiterführende Schule geholfen werden.
FDP: "Verbindliche Empfehlung sozial gerechter"
Die FDP sieht sich durch die jüngsten Zahlen bestätigt. Sie fordert deswegen erneut eine verbindliche Empfehlung. Studien zeigten, dass diese sozial gerechter sei, sagte der bildungspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Timm Kern. Grün-Schwarz dürfe die Augen vor dieser Entwicklung nicht verschließen, findet Kern. Die Liberalen wissen in dieser Frage Lehrkräfte an Gymnasien und Realschulen hinter sich. SPD, Grüne und auch die CDU sind aber gegen eine Rückkehr zur verbindlichen Grundschulempfehlung.
Und so liest die SPD die Statistik auch völlig anders: Die Zahlen seien weitgehend stabil geblieben, sagte SPD-Schulexpertin Katrin Steinhülb-Joos. "Was wir brauchen, sind mehr Unterstützungsmaßnahmen für unsere Schulen, damit sie mit Heterogenität noch besser umgehen können", sagte sie weiter. Dazu gehörten mehr individuelle Fördermaßnahmen, zusätzliche Poolstunden und weitere Fortbildungsangebote für Lehrkräfte.
Das Gymnasium als Musterschüler, die Hauptschule in der letzten Reihe, das war keineswegs immer so. Die Rangfolge bei der Schulartwahl hat sich im Laufe der vergangenen Jahre aber deutlich verändert. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts war die meistgewählte Schulart mit gut 34 Prozent die damalige Hauptschule. Das Gymnasium lag nach Angaben des Statistischen Landesamts mit knapp 34 Prozent ein ganzes Stück unterhalb des heutigen Niveaus von rund 45 Prozent. Im vergangenen Jahr ist der Anteil der künftigen Werkreal- und Hauptschüler erneut gesunken. Im Schuljahr 2022/2023 wechselten nur noch 5,3 Prozent der Grundschulkinder dorthin, 0,3 Prozentpunkte weniger als im Vorjahr.