Eltern, die keinen Betreuungsplatz für ihre Kinder finden, und viele Erzieherinnen und Erzieher, die am Ende ihrer Kräfte sind: Die Situation in den Kindertagesstätten in Baden-Württemberg ist angespannt. Viele kommunale und freie Träger kämpfen weiterhin mit Platz- und Personalmangel - eine Entlastung ist nicht in Sicht.
Unter anderem mit mehr nicht-pädagogischen Zusatzkräften und größeren Kita-Gruppen wollte die Landesregierung die Situation vorübergehend lindern. Eine SWR-Recherche zeigt jedoch: Nur sehr wenige Kindertagesstätten in Baden-Württemberg nutzen die Ausnahmeregeln, die bis August 2023 gelten sollen. Laut Angaben des Kommunalverbands für Jugend und Soziales sind es (Stand 31.1.) rund 150 Kita-Gruppen, die von der Höchstgruppenstärke abweichen. Noch weniger Kitas ersetzen eine Fachkraft mit zwei nicht-pädagogischen Zusatzkräften: Hier sind nur 81 Gruppen betroffen. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg gibt es etwa 28.670 Kita-Gruppen in rund 9.640 Einrichtungen.
Fachkräftemangel: Viele Städte nutzen Ausnahmeregel nicht
Städte wie Ulm, Freiburg, Karlsruhe und Böblingen bestätigen dem SWR, dass zumindest die städtischen Einrichtungen die Ausnahmeregelungen aktuell nicht anwenden, obwohl es aufgrund des Platzmangels nötig wäre. Der Grund: Unter anderem fehlt das Personal dafür. Denn nur solange eine Einrichtung den Mindestpersonalschlüssel einhält, darf sie die Gruppenhöchstgrenze überschreiten. Angesichts des Fachkräftemangels gestaltet sich das für viele kommunale und freie Träger allerdings schwierig.
Auf Nachfrage beim baden-württembergischen Gemeindetag, der diese Ausnahmeregelungen gefordert hatte, heißt es: Die Inanspruchnahme sei bisher "überschaubar". Allerdings betont der Gemeindetag, dass die Regelungen erst seit Mitte Dezember gelten. Entsprechend rechne man noch damit, dass die Zahl steigen werde, auch weil der Bedarf in den Kommunen so rückgemeldet worden sei, sagt ein Sprecher. In Stuttgart etwa wurde die Ausnahmeregel zur Höchstgruppenstärke erst Anfang der Woche beschlossen. In wie vielen Einrichtungen sie umgesetzt werde, könne man noch nicht sagen, so eine Sprecherin der Stadt.
Platzmangel in Kitas: Familien leiden unter finanziellen Einbußen
In Baden-Württemberg fehlen laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung 2023 rund 16.800 Erzieherinnen und Erzieher. So viele Fachkräfte wären nötig, um rund 58.000 Kita-Plätze schaffen zu können - und damit den Rechtsanspruch auf Betreuungsbedarf für alle Kinder im Land zu erfüllen. Nicht nur Kommunen und Kita-Fachkräfte stehen angesichts dessen unter enormem Druck. Auswirkungen hat das vor allem auch auf junge Eltern.
Familie Horn-Diedler aus Tübingen beispielsweise blickt mit viel Ungewissheit in den kommenden Herbst. Für Theresa Horn-Diedler ist unklar, ob ihre beiden Töchter im September einen Platz in einer Einrichtung bekommen werden. Sollte kein Platz frei werden für sie, hätte das vor allem auch finanzielle Auswirkungen. Dann könnte die 31-Jährige nicht wieder Vollzeit arbeiten und die Familie müsste "den Gürtel enger schnallen", sagt sie.
Städtetag in BW fordert landesweit kürzere Öffnungszeiten
Die junge Familie aus Tübingen steht nicht alleine da. Wie in vielen Kommunen ist auch in der Universitätsstadt die Situation in den Kitas angespannt. Die Stadt beschloss zuletzt, die Öffnungszeiten in den Einrichtungen wegen des fehlenden Personals von September an zu kürzen, um so spontane Schließungen zu vermeiden. Betroffen davon sind 50 Kita-Gruppen, die nur bis 13:15 Uhr geöffnet haben werden. Auch wenn das viele Familien schmerzt - für Horn-Diedler ein nachvollziehbarer Schritt: "Was sollen die Einrichtungen tun, wenn sie kein Personal haben?"
Künftig könnte es in Baden-Württemberg flächendeckend zu solchen verkürzten Öffnungszeiten kommen. Zumindest schwebt das dem Städtetag vor. Wissenschaftler, die im Bereich der frühkindlichen Bildung forschen, halten diese Maßnahme - im Gegensatz zu größeren Kita-Gruppen - immer noch für ein probates Mittel. "Wenn wir verhindern wollen, dass das Ganze zusammenbricht, müssen wir diese Einschränkung hinnehmen, auch wenn das für Ärger sorgt", sagt der Freiburger Professor Klaus Fröhlich-Gildhoff.
Wissenschaftler warnt vor "Kollaps" im Kita-System
Fröhlich-Gildhoff hat mit mehreren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einen Maßnahmenkatalog zusammengestellt, wie der "Kollaps" im frühkindlichen Bildungsbereich verhindert werden kann. Die Lage sei ernst, betont er. Aus seiner Forschung weiß er: Viele Erzieherinnen und Erzieher seien frustriert mit den Rahmenbedingungen, rund 20 Prozent würden dem Beruf deshalb in den ersten fünf Berufsjahren den Rücken kehren wollen.
Wollen die Kommunen und die freien Träger den fortschreitenden Fachkräftemangel verhindern, müssten sie in erster Linie alles dran setzen, die langjährigen Kräfte zu halten, mahnt Fröhlich-Gildhoff. "Größere Kita-Gruppen sorgen nur für mehr Unzufriedenheit." Mit verkürzten Öffnungszeiten und daneben beispielsweise weniger verwaltungstechnischen Tätigkeiten, die pädagogische Kräfte aktuell zusätzlich zur eigentlichen Arbeit übernehmen müssten, ließe sich der Personalmangel zumindest kurzfristig abfedern, so der Freiburger Professor. Langfristig müssten dann deutlich mehr pädagogische Kräfte ausgebildet werden.
Kaum Nachwuchssorgen: Nachfrage nach Erzieher-Lehre ist groß
Fakt ist: Das Interesse am Beruf ist da. Vor allem die praxisintegrierte Ausbildung (PiA) wird seit ihrer Einführung 2012 immer stärker nachgefragt. Laut Zahlen des Statistischen Landesamts stieg die Zahl der Auszubildenden über die Jahre kontinuierlich an: 2016 waren es etwas mehr als 3.700 und 2021 fast doppelt so viele. Eine SWR-Umfrage bei den größeren Städten im Land zeigt zudem, dass die Bewerberzahlen teilweise drei bis vier Mal so hoch sind wie die angebotenen PiA-Stellen.
Der Unterschied zwischen den Ausbildungswegen sind die Rahmenbedingungen: Bei der klassischen Ausbildung müssen angehende Erzieherinnen und Erzieher Bafög beantragen, und ein richtiges Gehalt gibt es nur im letzten Jahr. Bei PiA dagegen erhalten sie über die gesamte Ausbildungsdauer ein Gehalt. Für Fröhlich-Gildhoff ein weiteres Signal, dass gute Rahmenbedingungen den Beruf für viele attraktiv machen. Das hieße dann aber auch: "Der Staat muss mehr investieren", sagt der Professor.
Familie aus Tübingen: "Paare mit Kindern sind die Verlierer"
Für Eltern, die heute um einen Betreuungsplatz für ihre Kinder bangen, ist das allerdings nur ein schwacher Trost. "Paare ohne Kinder mit doppeltem Einkommen sind die Gewinner und Paare mit Kinder die Verlierer", sagt Vater Max Diedler. Für die Familie aus Tübingen kreuzen die Umstände selbst die künftige Familienplanung. Theresa Horn-Diedler sagt: "Klar hätte ich gern ein drittes Kind, aber dann denke ich mir: nicht unter diesen Umständen."