"Und wenn du mit der Schule fertig bist, dann heiratest du Cem!" In einem Klassenzimmer der Handelslehranstalt (HLA), einer beruflichen Schule in Bühl, fällt der Satz in einem Theaterstück zwischen einer Mutter und ihrer Tochter. In diesem Fall ist das Szenario nur gespielt, aber an der Schule hat es schon betroffene Schülerinnen gegeben. "Wir hatten einen Fall, den wir nicht vermeiden konnten. Da war das Mädchen weg, und wir haben dann mitbekommen, das wurde zwangsverheiratet", erzählt Christoph Rall, Mitglied der Schulleitung im Gespräch mit dem SWR.
Bei einer Zwangsheirat bestimmen häufig die Eltern gegen den Willen des Kindes, wen es heiraten soll. In dem Fall an der HLA Bühl habe die Schule auf die Schülerin keinen Zugriff gehabt, sagt Rall. In einem anderen Fall konnte die Schule laut dem Lehrer noch rechtzeitig die Polizei rufen und die Zwangsehe verhindern. Das Mädchen wurde danach an einen sicheren Ort gebracht.
Christoph Rall: Schule ist beim Thema Zwangsehe sehr wachsam
Auch in anderen Fällen gebe es Indizien für eine drohende Zwangsverheiratung, so Rall: Starke Zurückhaltung, zum Teil ältere Verwandte, die auf einmal auftauchten und sich telefonisch meldeten oder in die Nähe des Schulgeländes kämen. "Und man merkt, dass das nicht nur der nette Onkel ist. Sondern jemand, der von außen in die Familie hereinstößt und eine dominante Rolle einnimmt, fast eine Vaterrolle", so Rall. Eine besondere Häufung sieht der Lehrer aber trotzdem nicht. Die Schule sei nur sehr wachsam bei dem Thema.
Große Wellen schlagen die Fälle innerhalb der HLA aber nicht. "Es ist erschreckend, aber eigentlich bleibt alles ruhig", erinnert sich Rall. Unter den Schülern werde wenig darüber gesprochen. Und auch die Lehrkräfte thematisierten das nicht namensbezogen, sondern einfach nur anlassbezogen."
Um solche Fälle von vornherein zu verhindern, möchte die Schule die Schülerschaft präventiv aufklären. "Zwangsverheiratung ist immer mit anderen Themen verknüpft, wie zum Beispiel Homophobie, Gerechtigkeit, Gleichheit. Das sind immer Themen der Demokratiebildung", sagt Rall. In dem Bereich mache die Schule bereits viel, vor allem mit externer Unterstützung.
Alia tanzt gerne auf Partys, Junis ist homosexuell
Die Aufklärungsarbeit übernehmen diesmal an einem Projekttag drei Theaterpädagogen vom Theater gegen Ehrgewalt und patriarchale Strukturen "Ich gebe Dir mein Ehrenwort!" Seit 2015 läuft das Projekt, welches zusammen mit betroffenen Frauen entwickelt wurde. Die Handlung dreht sich um Junis und Alia, zwei Jugendliche mit einem Vater aus der Türkei und einer Mutter aus Syrien.
Alia tanzt gerne auf Partys und liebt Instagram. Junis schreibt Raptexte. Sie haben eine streng konservative Mutter, die von ihren Kindern fordert, sich an die kulturellen und religiösen Werte der elterlichen Herkunftsländer anzupassen. Das führt häufig zu Konflikten zwischen ihr und den Kindern. Aber auch unter den Geschwistern untereinander. Im Verlauf des Theaterstückes wird enthüllt, dass Junis homosexuell ist. Er wird von Zuhause rausgeschmissen. Alia soll nach der Schule dazu gezwungen werden, einen Mann zu heiraten.
SWR-Reporterin Mirka Tiede hat die Schülerinnen und Schüler beim Theaterprojekt begleitet:
Schülerinnen und Schüler können unverblümt diskutieren
Nach jeder Szene gibt es eine Pause. Die Schülerinnen und Schüler werden gefragt, wie sie die Situation empfinden und welche Meinung sie dazu haben. Wer Ideen hat, wie das Szenario hätte entschärft werden können, darf den Ansatz selbst auf der Bühne ausprobieren.
Das Theater sei für die Schülerinnen und Schüler ein Türöffner, erklärt die Theaterpädagogin Marilena Weichert: "Die Szenen sind sehr lebensnah und da erkennen sich die Jugendlichen wieder, öffnen sich. Wir kommen in einen Dialog." Nach dem Theaterstück werden die Schülerinnen und Schüler in Gruppen eingeteilt und können innerhalb von Workshops noch einmal in einen intensiveren Austausch kommen.
In dem Schutzraum sind die Schülerinnen und Schüler häufig ehrlicher als gegenüber ihren Lehrerinnen und Lehrern. "Im schulischen Kontext ist es auch schwierig, wo richtig und falsch oft so klar definiert sind, dass man in einem wirklichen Austausch kommt", sagt Weichert. Für den unverblümten Diskurs bekommt die Theaterpädagogin von Jugendlichen häufig viel positives Feedback. "Selbst wenn sie homophob sind, sagen sie, sie finden es total gut, dass wir darüber gesprochen haben." Denn sie hätten den Eindruck, dass über solch schwierige Themen häufig nicht gesprochen wird.
Zwangsehe: Landratsamt Rastatt hat Ansprechperson
Es ist unklar, wie häufig es in Deutschland zu Zwangsverheiratungen kommt und wie groß das Problem eigentlich ist. "Es gibt keine Statistiken zu Fallzahlen. Es gibt maximal die Kriminalstatistik auf Bundesebene, wo angezeigte Fälle von Zwangsverheiratungen statistisch erfasst werden", erklärt Carolin Merz, die Ansprechperson für Zwangsverheiratung im Rastatter Landratsamt. Die Dunkelziffer sei hoch, weil viele der Betroffenen sich gar nicht trauen, Hilfe zu suchen. Deshalb sei es umso wichtiger, in die Prävention zu investieren, so Merz.
Betroffen von Zwangsverheiratungen seien oftmals Mädchen, die im Kontext von patriarchalisch geprägten Familien aufwachsen sind. Aber auch Jungs könne eine Zwangsheirat treffen. "Das ist aber natürlich eher seltener der Fall. Aber in dem Beispiel im Theater mit der Homosexualität des Bruders hätte es durchaus auch ihm drohen können", sagt Merz. Oft ginge es bei Zwangsverheiratungen um die Familienehre.
Betroffenen rät Merz dazu, sich jemanden in seinem Umfeld zu öffnen. Das können zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer sein oder Sporttrainerinnen und Sporttrainer im Verein. "Wenn man sich traut, sich zu öffnen, dann kann es auch weitergehen." Im Landkreis Rastatt gibt es auch explizit Ansprechpersonen zum Thema Zwangsehe. Außenstehende sollten bei dem Thema aber auch nicht einfach wegschauen, sondern mit der betroffenen Person sprechen und sich an offizielle Stellen wenden.
Merz ist überzeugt davon, dass die Arbeit der Theaterpädagogen an der HLA Bühl auch langfristig Wirkung zeigt: "Das ist der erste kleine Stein, der Dinge zum Anstoß bringen kann", sagt sie gegenüber dem SWR. Merz geht davon aus, dass die Mädchen und Jungen auch im Freundeskreis noch weiter diskutieren. "Und dann kommen vielleicht Dinge auch ins Rollen."