Dan will endlich ein "Lebenspodest". Er will etwas, worauf er aufbauen kann, vorankommen im Leben. Aber zuerst: "'Ne Eckcouch, 'nen Tisch, 'nen Ofen für den Winter, 'nen Aschenbecher gegebenenfalls, das würde absolut reichen." Dan, 17 Jahre alt, Arbeitshose, muskulöse Arme, dicke Edelstahlkette um den Hals, zeigt auf die eine glänzende Stelle am ansonsten rostroten Stahlgestell vor sich. "Alles war so blitzeblank wie hier", es hat viel geregnet.
Dan steht vor dem Gerippe eines alten Bauwagens. Wände und Boden waren voller Ungeziefer. Aus den Resten der Wände, dem Dach und dem Gestell soll mit viel Arbeit ein Rückzugsort für Dan und seine Arbeitskolleginnen und -kollegen werden. Christian Teusch schaut über Dans Schulter auf ihr Langzeitprojekt: "Ich hab' noch Hoffnung. Wird alles komplett neu aufgebaut." Teusch, 51, ist gelernter Schreiner und Arbeitserzieher bei "Jugend.Arbeit.Perspektive" (JAP) in Stuttgart-Feuerbach. Hier will Dan sein "Lebenspodest" errichten. Christian Teusch unterstützt ihn dabei.
JAP: Stuttgarter Projekt soll junge Menschen fit für die Ausbildung machen
JAP ist in Stuttgart-Feuerbach, nördlich des Stadtzentrums, im dritten und vierten Stock eines Betonbaus untergebracht. Nebenan ein Caritas-Sozialkaufhaus und die Mobile Jugendarbeit Feuerbach. Seit 1999 arbeitet Christian Teusch hier als Arbeitserzieher. Mit den grauen Koteletten und der schwarzen Gelfrisur erinnert er an einen sehr bodenständigen Elvis-Darsteller. Wenn Teusch mit Dan spricht, klingt er streng und gutmütig zugleich, man kann noch hören, dass er an der Mosel und nicht am Neckar groß geworden ist.
Bis zu 24 junge Menschen zwischen 15 und 27 Jahren können bei JAP arbeiten - Dan ist einer von ihnen. Damit dieser Text seinem weiteren Leben nicht im Weg steht, wird Dan hier nur beim Vornamen genannt. Denn Dan ist das, was auf der Homepage des Projekts als "chancenarm" bezeichnet wird. Aufgewachsen in Stuttgart hat er früh gegen Regeln und Gesetze verstoßen. Jahre seines Lebens hat Dan in einer betreuten Wohngemeinschaft für schwererziehbare Jugendliche verbracht, in einer angeschlossenen Schule seinen Hauptschulabschluss gemacht. Jahrelang wurde er gemobbt, in der Schule als Klobürste missbraucht. Heute wohnt er wieder bei seiner Mutter und den kleinen Geschwistern.
Seit Oktober 2022 ist Dan bei JAP, hat sich Hilfe gesucht. Davor, nach seinem Schulabschluss, hat Dan, so sagt er es, "nichts gemacht, gefaulenzt, war ein bisschen durcheinander" - monatelang. Wie viele andere junge Menschen leidet auch Dan in dieser Zeit unter der Isolation durch die die Corona-Pandemie. Krafttraining und eigene Rap-Texte helfen ihm durch die düsteren Monate. Heute sagt er: "Aber hier die Arbeit, die ist nice. Gefällt mir wirklich."
Azubimangel: Tausende in BW arbeiten ohne Berufsabschluss
Nicht nur Dan will eine Chance am Arbeitsmarkt. Der Arbeitsmarkt braucht junge Menschen wie Dan. Fast jedes zweite Unternehmen klagt über Azubimangel, fehlende Fachkräfte sind in ganz verschiedenen Branchen ein Problem. Die Angehörigen der Generation Z (zwischen 1995 und 2010 geboren) werden so sehr gebraucht wie wenige Alterskohorten vor ihnen.
Baden-Württemberg könne es sich im Jahr 2023 kaum noch leisten, dass junge Menschen nur schwer in eine Ausbildung kommen oder arbeiten, ohne durch einen Berufsabschluss abgesichert zu sein. Das sagt Silke Hamann, Mitautorin einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Hamann und ihre Kollegen haben unter anderem rund 136.000 Menschen in BW unter 25 Jahren untersucht, die zwischen 2013 und 2017 ohne Berufsabschluss in den Arbeitsmarkt eingestiegen sind. Auch 2021, also acht Jahre nach Beginn der Beobachtung, standen noch etwa 50.000 von ihnen ohne beruflichen Abschluss da. Rund 58.000 junge Menschen der untersuchten Gruppe gelang es, einen Ausbildungs- oder Studienabschluss nachzuholen. Von denen, die längerfristig keinen Abschluss nachholten, arbeiteten nur 42 Prozent später als Fachkräfte, viele arbeiten auch nach Jahren am Arbeitsmarkt noch in Minijobs oder Helfertätigkeiten.
Azubis dringend gesucht Ausbildungen in BW: Tausende offene Stellen im Handwerk
Das neue Ausbildungsjahr startet mit mehr Azubis als noch im vergangenen Jahr. Trotzdem bleiben viele Stellen frei. Das Handwerk wünscht sich mehr Unterstützung von der Politik.
Austausch zwischen Schulbehörden und Arbeitsagentur verbessern
IAB-Forscherin Silke Hamann erklärt: "Wenn junge Menschen ohne Abschluss arbeiten, sind das die ersten, die auch wieder gehen müssen." Zwar könne der Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg wegen seines Schwerpunkts im industriellen Bereich und der Fahrzeugproduktion traditionell Menschen ohne Qualifikationen aufnehmen. Das bedeute aber zugleich, dass der Arbeitsmarkt hierzulande vom Strukturwandel besonders hart getroffen werde. Wer sich zunächst vielleicht gefreut habe, auch ohne Berufsabschluss Arbeit zu haben, der müsse dann damit rechnen, seine Arbeit wieder zu verlieren. Zudem seien diese Jobs außerhalb der Industrie häufiger sehr gering entlohnt.
Um die jungen Menschen als mögliche Auszubildende und Fachkräfte zu gewinnen, brauche es in Baden-Württemberg einen besseren Informationsaustausch zwischen Schulbehörden und Arbeitsagenturen, so die Wissenschaftlerin. "In anderen Bundesländern ist es etwas besser geregelt, sodass die Arbeitsvermittlung mehr Informationen darüber hat, wer zum Ende seiner Schullaufbahn noch ohne Ausbildungsmöglichkeit dasteht." Auch beim Jugendprojekt JAP in Stuttgart sprechen sie von einem Zeitfenster von wenigen Monaten. In der Zeit bevor sie von der Schule abgehen oder kurz danach - mit oder ohne Abschluss - müsse man die Jugendlichen erreichen. Arbeitserzieher Christian Teusch sagt: "Wir versuchen alles, damit keiner durchs Raster fällt. Aber wenn die Personen nicht greifbar sind, dann wird es auch für uns schwierig."
Dan hat sich bei JAP seine Chance erarbeitet. Nach einem Praktikum in einer Firma für Garten- und Landschaftsbau hat er die Zusage für eine Ausbildung. Sein Arbeitserzieher Christian Teusch will, dass Dan noch weitere Praktika macht, andere Berufe kennenlernt. "Die Reife, die fehlt mir tatsächlich noch ein bisschen", sagt Dan. Im Praktikum habe er gemerkt, dass die Ausbildung härter sei als die Arbeit hier bei JAP. Gemeinsam haben sie entschieden, dass er erst im September 2024 seine Ausbildung beginnen soll.
Arbeitsprojekt: Interessen entdecken und andere mitziehen
Bis dahin wird Dan bei JAP in Stuttgart-Feuerbach 35 Stunden pro Woche verbringen. Wenn er Pause macht, ist er am liebsten auf der Dachterrasse. Einen Taubenschlag gibt es hier oben - und Bienen. "25 Kilo astreiner Honig", die letzte Ausbeute, "der ist echt bombe." Dan läuft vorbei an einer Sitzecke mit Boxsack: "Oh je, was ist denn damit passiert? No way!" Aus mehreren hölzernen Hochbeeten wachsen Gemüse und Kräuter in die Höhe, der Kürbispflanze ist ihr Beet zu klein geworden, ein paar ihrer Früchte werden auf den Steinplatten langsam matschig. "Hier ist grade Wildwuchs", sagt Christian Teusch entschuldigend. "Kuck mal: Hier sind Erdbeeren", er zeigt auf eine große knallrote Frucht zwischen viel Grün, "willste?" Dan schließt kurz die Augen. "Mhm, sehr lecker."
Extras wie das Bauwagenprojekt, Hochbeete und Bienenstöcke auf der Dachterrasse sind durch Spenden und viel Einsatz der Mitarbeitenden möglich. Hier sollen die jungen Menschen herausfinden, was ihnen Spaß macht, Interesse entwickeln und die anderen in der Gruppe mitziehen.
Sie können in den Bereichen Handwerk, Fahrradwerkstatt und Spielzeugverkauf arbeiten, bekommen am Monatsende 400 Euro Aufwandsentschädigung plus Fahrtgeld. Neben der Arbeit wird gekocht, es gibt Nachhilfe oder die Möglichkeit einen Schulabschluss nachzuholen, ein Sportprogramm, Gespräche mit Sozialpädagoginnen und einer Psychotherapeutin. Erfahrungen als Gruppe sind der Kern des Projekts, gemeinsam wird gekocht und gegärtnert. Finanziert wird JAP vom Jugendamt, "400+Zukunft" heißt das zugehörige Programm der Stadt Stuttgart. Zählt man das Vorgängerprojekt von JAP mit, werden hier seit 40 Jahren junge Menschen auf das Arbeitsleben vorbereitet, die sonst wenig Chancen haben.
12 bis 18 Monate bleiben die, die es durchziehen. Denn das Programm ist zwar so niedrigschwellig wie möglich, mit 35 Stunden in der Woche ist es aber auf Vollzeit ausgelegt. Pünktlich um 8 Uhr startet die Morgenrunde. Beim Sport darf zwar gejammert werden, mitmachen ist aber Pflicht. Wer sich nicht gut fühlt, muss eine Krankmeldung vorlegen. Auch Pünktlichkeit und Verlässlichkeit sollen die Jugendlichen hier lernen.
Jede abgeschlossene Ausbildung ist ein Erfolg
Christian Teusch will für Dan eine echte Chance in der Arbeitswelt. Jeder Einzelne, der irgendwann wirklich eine Ausbildung starten und die drei Jahre durchhalten könne, sei ein Erfolg, sagen sie hier. JAP ist keine Maßnahme vom Jobcenter, die man absolvieren muss, will man keine Kürzungen der Sozialleistungen in Kauf nehmen. Hier sei man zieloffener, sagt Eckhard Juwig, Fachdienstleiter in der Jugendberufshilfe der Caritas in Stuttgart. "Wenn es eine Stabilisierung gab, das Sozialverhalten besser ist, der Drogenkonsum geringer, dann ist das auch schon ein Erfolg."
Dan arbeitet bei JAP im Handwerk, einmal quer über den Hof in einem Nebengebäude ist die Werkstatt. Auf dem Weg nach unten kommt er an einem Aufzug vorbei. Neben der Tür hängen zwei Zettel: "Da viele sich nicht an die Regeln halten werden, gibt es einen Reinigungsplan" steht auf dem einen. Auf dem anderen: "Denk immer dran, wie du dich fühlen müsstest, wenn es dein Aufzug wäre." Die Jugendlichen, die hierher kommen, müssen sich das Vertrauen der anderen erst wieder erarbeiten.
Neben der Holzwerkstatt im Erdgeschoss werden alte Fahrräder wieder flott gemacht. Auch hier will Dan noch Station machen, solange er bei JAP ist. Aktuell arbeitet er aber meistens draußen, wo der Bauwagen steht. Als ein Ort nur für die Jugendlichen soll er einmal unter dem Kirschbaum im Innenhof seinen Platz finden.
Unten angekommen schauen Christian Teusch und Dan auf das Bauwagengerippe. "Solaranlage aufs Dach, damit man autark ist, Wassertank für fließend Wasser", sagt Teusch zu Dan, "wird größer, länger, breiter ..." Dan grinst: "Besser! Nach meiner Ausbildung fange ich einfach wieder hier an."
"Hauptsache ich habe den Gesellenbrief in meiner Hand."
Als Kind wollte Dan Bankmanager werden. "Aber die Ambitionen haben mir am Anfang des Lebens gefehlt." Jetzt will er unbedingt eine Ausbildung schaffen - wahrscheinlich zum Landschaftsgärtner. "Hauptsache ich habe den Gesellenbrief in meiner Hand." Er sei ja schon sehr begeisterungsfähig, sagt Christian Teusch, "der Dan legt sich auf eine Sache fest, dabei glaube ich, dass es noch viele andere Sachen gibt, die ihn interessieren würden." Zur Feier seines Abschlusses will er nach Amsterdam. "Die Stadt an sich ist bombe, es ist einfach idyllisch dort. Fahrradfahren ist richtig schön." Die Stadt kennt Dan von Videos und Bildern im Internet.
Als es Zeit ist, wieder in den vierten Stock zu gehen - Dans Tag bei JAP endet um 16:30 Uhr - fragt Christian Teusch seinen Schützling: "Treppe oder Aufzug?" Dan nimmt den Aufzug nach oben.