Crístian Andrade Escobar war 13 Jahre alt und lebte mit seinen Eltern, seinem älteren Bruder und seiner jüngeren Schwester in San Miguel, einem Arbeiterviertel mitten in der Hauptstadt Santiágo de Chile. Der etwas verträumte Junge mochte Pflanzen und Tiere und war verliebt, in Elcira, die hübsche Nachbarstochter. Doch sein Leben änderte sich am 11. September 1973 auf einen Schlag.
In der Hauptstadt Santiágo de Chile fuhren Panzer auf, die Militärs riefen die Bevölkerung auf, die Häuser nicht zu verlassen und verlasen Namen auf Fahndungslisten. Crístian hörte Flugzeuge und Hubschrauber über sich kreisen. Sein Vater war zuhause, seine Mutter im Krankenhaus. "Uns war klar, dass wir uns auf das Schlimmste vorbereiten mussten", erzählt der heute 63-Jährige.
Ins Exil geflohen: Trauma hält bis heute an
Sein Vater Carlos Andrade war ein bedeutender Gewerkschaftsführer und stand ganz oben auf den Fahndungslisten der Militärs. Er wurde am 28. September 1973 verhaftet. Von diesem Tag an war seine Mutter mit drei Kindern alleine. Die Angst vor Verfolgung und die Sorge um Vater und Ehemann ließ die Familie fast verzweifeln. Die Versorgungslage war schlecht und Christian hatte oft Hunger.
11. September 1973: Tag des nationalen Traumas in Chile
Der Militärputsch unter General Augusto Pinochet ist für viele Chileninnen und Chilenen ein kollektives Trauma. An diesem Tag wurde der Palast des chilenischen Präsidenten Salvador Allende aus der Luft angegriffen. Später wurde er tot in seinem Büro gefunden. Einem Obduktionsbericht zufolge soll er sich selbst erschossen haben.
Am 11. September 1973 endete der Traum vom Sozialstaat. Die Unidad Popular, ein Bündnis chilenischer Parteien und Gruppierungen, die sich für soziale Reformen und die Rechte der Arbeiter einsetzten, war zerschlagen.
Vater kam ins Konzentrationslager
Arbeiter und Bauern leisteten Widerstand. Das Lied "El pueblo unido jamas será vencido" - auf deutsch: "Ein geeintes Volk wird nie besiegt werden" wird zum Symbol für den Kampf gegen die Diktatur Pinochets. Doch gegen das hochgerüstete Militär waren sie machtlos. Wie Crístians Vater wurden zehntausende Arbeiterinnen, Sozialisten, Kommunistinnen und Gewerkschafter verschleppt. Viele von ihnen erschossen.
Eineinhalb Jahre verbrachte Carlos Andrade in mehreren Konzentrationslagern, zuerst im Nationalstadion, das für seine grausamen Foltermethoden berüchtigt war. Ausgehungert und fast zu Tode misshandelt wurde er in das politische Gefangenenlager Chacabuco transportiert, das in der sengenden Hitze der Atacama-Wüste im Norden von Chile lag. Danach kam er ins Konzentrationslager Puchuncavi, das in der Nähe der Hafenstadt Valparaíso lag. Dort konnte ihn Crístian zum ersten Mal besuchen. "Er war so dünn wie ich mit meinen 13 Jahren. Das war für mich ein Schock", erinnert er sich.
Christians Mutter Sylvia suchte Hilfe beim "Ökumenischen Komitee für Frieden", das sich für die Opfer und ihre Angehörigen einsetzte. Ihr Vizepräsident war der evangelisch-lutherische Bischof Helmut Frenz, der 1965 als junger Auslandspfarrer mit seiner Familie aus Deutschland gekommen war.
Die Familie floh nach Deutschland - ein Leben im Exil
Zehntausende Chileninnen und Chilenen flohen ins Ausland. Insgesamt kamen nach und nach 6.000 politische Flüchtlinge in das damals geteilte Deutschland, zwei Drittel von ihnen in die Bundesrepublik - darunter war auch Crístians Familie.
Sein Vater hatte die Folter überlebt und wurde des Landes verwiesen. Mit Hilfe von Amnesty International kamen sie 1975 mit nur einem Koffer und einem Sack Kleider in ihren Händen am Flughafen Frankfurt an, zogen von dem Erstaufnahmelager in Rastatt nach Göppingen, Nürtingen und nach Stuttgart-Wangen, wo sie in der evangelischen Gemeinde St. Michael herzlich aufgenommen wurden.
Marlies Hollich lebt am Fuße der Michaelskirche, am Kirchweinberg. Als junge Frau arbeitete die gläubige Christin als Gemeindehelferin und leitete Jugend- und Kindergruppen. Als der Gemeindepfarrer auf der Suche nach einer Wohnung für die Familie war, vermittelte Marlies Hollich eine Wohnung in ihrem Haus.
Jemand aus der Gemeinde leitete dann auch in die Wege, das Carlos Andrade bei Daimler arbeiten konnte. So fand Crístians Vater Arbeit in Stuttgart. Ob Behördengänge, Arztbesuche oder Unterstützung beim Deutsch lernen - Marlies Hollich half, wo sie konnte. Crístian war 15, sein Bruder Carlos 17 und seine Schwester Edith 14 Jahre alt. Die Teenager hatten in Chile alles zurückgelassen, auch ihre Freunde. "Wir haben uns langsam angenähert. Mit der Sprache, das war auch noch ein bisschen schwierig", erinnert sich Hollich.
Leben im Exil in Stuttgart-Wangen
Zwischen Marlies Hollich, die heute 80 Jahre alt ist, und Familie Andrade-Escobar entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Marlies Hollich schildert Crístians Mutter als stille, zurückhaltende Frau, die sehr unter Heimweh und dem Leben in der Fremde litt. Dazu das Trauma der Verfolgung und die Sorge um Angehörige und Freunde. Sie wurde schwer krank und starb mit 46 Jahren im Exil. Für Crístian, seinen Vater Carlos und seine Geschwister ein tiefer Schmerz. Ihre Mutter wurde zur Beerdigung nach Chile überführt.
Kraft gab vielen Exil-Chileninnen und -Chilenen der Zusammenhalt und der geeinte Widerstand gegen das Pinochet-Regime. Die Jungen lernten schnell deutsch und knüpften Freundschaften. Crístian trug Jeansjacke und Schlaghosen und machte eine Ausbildung zum Drucker. In vielen deutschen Städten entstanden Chile-Komitees, die sich mit den Geflüchteten solidarisierten und Aufklärungsarbeit leisteten. Crístian und seine Familie setzten ihren politischen Widerstand im Exil fort und es entstand in Deutschland eine große Solidaritätsbewegung, erzählt Marlies Hollich: "Mich hat einfach fasziniert, wie sie mit soviel Hoffnung doch versucht haben, in die Zukunft zu schauen."
Rückkehr nach Chile: In den Widerstand
1987 kehrten Crístian und sein Bruder nach Chile zurück. Und gingen in den Widerstand. Vater Carlos folgte ihnen später nach. Er beschreibt eine unbändige Wut, die deutlich gemacht habe, dass sie zurück nach Chile gehen mussten. Und: "dass es notwendig ist, auch dafür das Leben zu geben, wenn es dem Ziel der Demokratie zugute kommt."
Crístian Andrade Escobar lebt seit seiner Rückkehr in Santiágo de Chile. Sein Vater starb vor zwei Jahren an Krebs. Zu Marlies Hollich hat der 63-Jährige bis heute Kontakt. Augusto Pinochet starb 2006 und wurde nie für die Verbrechen der Militärdiktatur verurteilt.
Escobar vergleicht das Trauma mit einem Stachel im Schuh, mit dem man durchs Leben gehe: "Es wird kein Verzeihen, es wird kein Vergessen geben. Ni perdon, ni olvido. Und das zeigt, dass man mit dieser Situation sein ganzes Leben laufen muss."
Hier finden Sie die Geschichte als Podcast.