Anita Lasker-Wallfisch, die am 31.1.2018 eine Rede im Bundestag zum Holocaust-Gedenktag hielt, war einer der ersten Menschen, die der Öffentlichkeit von den Verbrechen in den Konzentrationslagern berichteten. Bevor sie nach Bergen-Belsen gebracht wurde, gehörte sie dem Mädchenorchester von Auschwitz an. Am 15. April wurde die 19-Jährige aus Bergen-Belsen befreit. Schon einen Tag später berichtete sie im deutschen Programm der BBC, was sie erlebt hatte.
Transkription der Ansprache von Anita Lasker
"Hier spricht Anita Lasker, eine deutsche Jüdin. Ich befinde mich mit meiner Schwester seit drei Jahren in Haft. Ich bin politischer Häftling. Ich habe französischen Kriegsgefangenen über die Grenze verholfen. Zuerst wurden wir ins Gefängnis eingesperrt. Meine Schwester wurde zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus, ich zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Nach anderthalb Jahren brachte man uns beide in das furchtbarste Konzentrationslager: Auschwitz.
Ich möchte zuerst ein paar Worte über Auschwitz sagen: Die Auschwitzer Häftlinge, die wenigen, die geblieben sind, fürchten alle, dass die Welt nicht glauben wird, was dort geschehen ist. Dort hat man lebendige gesunde Menschen lebend ins Feuer geworfen. Meine Baracke war ungefähr 20 Meter von dem Kamin, von einem der fünf Kamine, die sich dort befanden, entfernt. Ich habe alles mit eigenen Augen mit angesehen.
Es stand ein Arzt und ein Kommandant bei Ankunft der Transporte an der Rampe, und vor unseren Augen wurde sortiert. Das heißt, man fragt das Alter und den Gesundheitszustand. Die unwissenden Ankömmlinge pflegen irgendwelche Leiden anzugeben und unterschreiben damit ihr Todesurteil. Besonders hat man es auf Kinder und Alte abgesehen. Rechts – links – rechts – links. Rechts ist zum Leben, links ist zum Kamin.
In der Nacht brannte das Feuer bis zum Himmel. Kinder hat man lebendig hineingeworfen, und aus Menschlichkeit pflegte man die anderen zu Vergasen, das heißt zu betäuben. Wenn aber zu viel Arbeit war, pflegte man alle lebendig zu verbrennen. Die Schreie hörten wir bis in unsere Baracke. Dazu wurde immer Musik gemacht. Ich selbst befand mich in der Musikkapelle. Zu den furchtbarsten Dingen wurde Musik gemacht. Besondere Verdienste in Auschwitz um die Juden haben sich Maria Mandel, Margot Drexel/Drechsel und der Kommandant Kramer, der auch in Bergen-Belsen Lagerkommandant war, erworben.
Nach einem Jahr Aufenthalt in Auschwitz – meine Schwester und ich waren sehr krank und sind nur mit Mühe dem Tode entronnen – wurden wir nach Bergen-Belsen geschickt. Bergen-Belsen, was jetzt als das furchtbarste Konzentrationslager bezeichnet wird. Und es reicht bei Weitem nicht an Auschwitz heran. In Bergen-Belsen gibt es kein Kamin. Das heißt, das Elend wird nicht verbrannt, so wie es in Auschwitz war. Hier haben die Leute gehungert. Hier war Typhus, hier war Schmutz, Läuse, keine Hygiene, keine Ambulanz, keine Medikamente. 14 Tage blieben wir ohne Brot. Verpflegung war Rüben mit Wasser, ohne Salz.
Endlich am 15. kam die Befreiung. Die Befreiung, auf die wir drei Jahre lang gehofft haben. Noch können wir es nicht begreifen. Noch glauben wir zu träumen. Wir sehen die Engländer durch das Lager fahren: Menschen, die uns nichts Böses wollen. Menschen, die uns helfen wollen. Wir können es nicht begreifen. Man hat Wasser gebracht, Wasser! Drei Wochen waren wir ohne Wasser. Die Menschen sind verdurstet. Heute früh ist noch eine Kameradin von mir gestorben, angesichts der Befreiung. Meine Eltern sind auch dabei kaputtgegangen.
Aber wir blicken jetzt vorwärts, wir sind voller Hoffnung, voll neuen Mutes. Wir sind befreit. Hoffentlich werden wir doch noch irgendwelche Verwandte wiedersehen."
Im Bild: Ein an Typhus erkrankter Überlebender des KZ Bergen-Belsen nach der Befreiung des Konzentrationslagers am 15. April 1945 durch britische Truppen
Holocaust-Gedenken Anita Lasker Wallfisch – ein Videostolperstein
„Man hat uns derartig entwürdigt, dass es letztendlich gar nicht schwer war, uns zu ermorden.“ Die Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch berichtet aus Auschwitz.
15.4.1945 Zwei Mädchen nach ihrer Befreiung aus Bergen-Belsen im BBC-Interview
15.4.1945 | Am 15. April 1945 befreiten britische Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Unmittelbar danach führt BBC-Kriegsreporter Patrick Gordon Walker Interviews mit Überlebenden.
Die erste ist die 14-jährige Olga Schlossberg. Sie hatte mehrere Konzentrationslager überlebt. Die Aufnahme mit ihr dauert nur 40 Sekunden.
Der Interviewer Patrick Gordon Walker arbeitete damals für das deutschsprachige Programm der BBC.
In einem zweiten Interview befragt Patrick Gordon Walker ein belgisches Mädchen, die 15-jährige Hetty Esther Werkendam, ebenfalls kurz nach der Befreiung aus Bergen-Belsen. Sie schildert die Trennung von ihrer Mutter und die Misshandlung ihres Vaters im Lager. Hetty Werkendam, ihre Eltern und ihre zwei Brüder überlebten das Konzentrationslager. Viele andere Verwandte wurden jedoch ermordet. Nach dem Krieg zog die Familie zunächst in die Niederlande. Hetty heiratete und nahm den Namen ihres Mannes, Verolme, an. Als dieser starb, zog Hetty Verolme 1954 nach Australien, wohin ihre Eltern schon vorher ausgewandert waren.
Der Interviewer, Patrick Gordon Walker wiederum, wurde später britischer Außen- und Bildungsminister. Im SWR2 Archivradio gibt es eine weitere Aufnahme mit ihm, in der er ebenfalls im April 1945 einen SS-Unterscharführer über seine Erlebnisse in Auschwitz, Dachau und Bergen-Belsen befragt.