Neidisch? "Nein, neidisch bin ich nicht", sagt Ingrid Weigel. Die 70-Jährige aus Hatzenbühl (Kreis Germersheim) freut sich auf die neue Tour de France Femmes, die am Sonntag in Paris startet. Für sie ist es der Höhepunkt einer Entwicklung, für die sie selbst lange gekämpft hat. "Und darum freue ich mich, dass es mittlerweile so weit gekommen ist."
Denn als Ingrid Weigel - damals noch unter ihrem Geburtsnamen Ingrid Persohn - das erste Mal aufs Rennrad stieg, war der Sport für Frauen in Deutschland noch verboten. Der Deutsche Radfahrer-Bund - ein Vorgängerverband des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) - hatte das 1900 in seinen Statuten verfügt.
Absurde Gründe fürs Radsport-Verbot
Die Gründe für das Verbot waren ähnlich absurd, wie das Verbot selbst. Radfahren sei unweiblich und Frauen bekämen davon Geschwüre, könnten gar unfruchtbar werden. Der Mediziner Martin Mendelsohn schrieb in der "Deutschen Medizinischen Wochenschrift" sogar: "Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass, wenn die betreffenden Individuen es wollen, kaum eine Gelegenheit zu vielfacher und unauffälliger Masturbation so geeignet ist, wie sie beim Radfahren sich darbietet." Wer sich dennoch aufs Rad wagte, musste sich mit allerlei sexsistischen Kommentaren herumschlagen. Amelie Rother nennt das in ihrem Beitrag zum Sammelband "Der Radfahrsport in Wort und Bild" von 1897 einen "Spießrutenlauf".
Die wilhelminischen Moralapostel störten sich auch an der "neuen" Kleidung radfahrender Frauen. Denn Korsetts und mehrere Unterröcke, wie sie damals bei all jenen üblich waren, die sich Radfahren überhaupt leisten konnten, waren für den neuen Sport eher unpraktisch. Auch deswegen sagte die Frauenrechterlin Susann B. Anthony übers Radfahren: "Ich denke, es hat mehr für die Emanzipation der Frau getan als irgendetwas anderes auf der Welt."
Frauen-Radsport war für ihre Mutter ein Skandal
Diese Argumente kannte auch Ingrid Persohn, als sie etwa sechs Jahrzehnte später aufs Rad stieg - damals war sie zehn Jahre alt. "Meine Mutter meinte ja schon beim Turnen, das ist nichts für Mädchen. Als ich dann mit Radsport anfing, war das für sie geradezu ein Skandal." Der Bruder hatte sie mit dem "Rennrad-Virus" angesteckt: "Für mich als junges Mädchen war das eine tolle Gelegenheit, mal rauszukommen."
Doch "mal rauskommen" reichte ihr nicht, sie wollte den Wettbewerb. "Wir haben immer etwas neidisch in die Niederlande oder nach Belgien geschaut. Die waren damals schon viel weiter als wir." In der DDR gab es seit 1956 offizielle Deutsche Meisterschaften im Straßenradrennen. Zwei Jahre später organisierte der Weltverband UCI die erste WM. In der BRD war Radrennen für Frauen weiterhin verboten.
Deutsche Radsport-Funktionäre sperrten sich
Persohn musste bis 1967 auf ihr erstes offizielles Rennen warten. "Wir Frauen sind halt lästig geworden, haben gefragt und gefragt und gefragt und gefragt. Ja, und irgendwann durften wir halt." Dabei sagte der damalige BDR-Präsident Erwin Hauck noch kurz vor der entscheidenden Bundeshauptversammlung in Ludwigsburg: "Solange ich hier Präsident bin, wird es im BDR keinen Rennsport für Frauen geben."
Diese Skepsis schlug auch der jungen Ingrid Persohn entgegen. Denn im Training war sie immer die Exotin, die sich mit den Jungs anlegte: "Man hat erst ein bisschen was zeigen müssen. Aber wenn man dann mitgefahren ist und war gar nicht so schlecht, dann haben sie auch Respekt vor einem gehabt. Und das hat mich auch ein bisschen gereizt." Die ersten Rennen fuhr sie noch auf einem geliehenen Herren-Rad. "Später sind wir nach Holland gefahren und haben ein Fahrrad extra für mich anfertigen lassen", sagt die heute 70-Jährige. "Das habe ich immer noch und hängt bei mir in der Scheune."
Radsport als persönliches Tor zur Welt
Es war jedoch nicht nur der sportliche Ehrgeiz, der Persohn faszinierte. In den 1960ern und -70ern öffnete der Radsport auch ein Tor zur Welt: "Früher hatte man ja kein Auto gehabt. Und wenn man mal gewohnt war, mit dem Fahrrad am Tag 100 Kilometer zu fahren - da kam man auch mal in die Berge oder in die Rheinebene." Mit den ersten Erfolgen wurde ihre Welt dann nochmal größer: "Später sind wir dann auch mal die Holland-Rundfahrt gefahren oder die Schweden-Rundfahrt. Da ist man richtig rumgekommen."
Die Anfangstage des bundesdeutschen Frauen-Radsports waren noch etwas wild: "Die Rennen waren zwischen zehn und 80 Kilometern lang - je nachdem, wie die Veranstalter Zeit hatten. Da wusste man gar nicht so recht, worauf man trainieren sollte." In diesem wilden Durcheinander ging Monika Mrklas 1968 als beste Radfahrerin hervor. Bei der 1970 erstmals ausgetragenen Deutschen Meisterschaft für Frauen schlug dann Ingrid Persohns ganz große Stunde: "Da hätte ich noch bei den Mädchen starten dürfen, bin aber bei den Frauen gefahren. Ich habe dann wirklich gewonnen, was ich nicht gedacht hätte." Diesen Triumph wiederholte sie 1971 und 1975.
Zweite Karriere bei Rosalia Hatzenbühl
Als ein Jahr später Tochter Bettina zur Welt kam, beendete die mittlerweile verheiratete Ingrid Weigel ihre Karriere. "Manche sind noch mit Kindern gefahren. Aber das ist sehr anstrengend. Dann braucht man jemanden, der sich darum kümmert. Und das war bei mir leider nicht der Fall."
Stattdessen wurde sie Funktionärin bei ihrem Stammverein Rosalia Hatzenbühl - und freute sich über den anhaltenden Erfolg ihrer Nachfolgerinnen: "Als dann später (1978, Anm. d Red.) Beate Habetz und noch etwas später (1981) Ute Enzenauer Weltmeisterin geworden sind, hat das dem Frauen-Radsport immer wieder Auftrieb gegeben." 1984 starteten die Frauen das erste Mal beim Olympischen Straßenrennen. Doch erst in London 2012 gab es genauso viele Radsport-Wettbewerbe für Männer, wie für Frauen.
Tour de France ein unerfüllter Traum
Seitdem hat sich der Frauen-Radsport immer weiter professionalisiert. Und seit der Reform der UCI Women’s WorldTour 2016 gehen auch immer mehr Klassiker wie die Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix oder Lüttich-Bastogne-Lüttich mit einer eigenen Frauen-Version an den Start - seit 2022 auch die Tour de France. Für Ingrid Weigel ein unerfüllter Traum: "An Tour de France war damals gar nicht zu denken."
Also: neidisch? "Nein. Gar nicht. Ich freue mich heute noch ganz sehr, dass es soweit gekommen ist. Ich habe neulich noch ein Interview gelesen, dass die Männer 600.000 € bekommen und die Frauen nur 50.000€. Aber das ist schon so ein Fortschritt. Das ist für mich schon so ein Sieg, dass das immer weitergegangen ist. Da bin ich gar nicht neidisch."