Gut sieht sie aus. Während die Sonne vom Himmel brennt, lacht Anna-Maria Wagner direkt bei der Begrüßung. Sie scheint voller Energie zu sein. Die 28-Jährige macht wenige Tage nach ihrer Rückkehr aus Paris Zwischenstation in Stuttgart. Domenic Weinstein, ihr Freund und ehemaliger Weltklasse-Bahnradfahrer, ist auch dabei. Beide sind auf dem Weg gen Süden, zu Wagners Familie nach Ravensburg. Einen weiteren Begleiter wird die deutsche Fahnenträgerin in den nächsten Wochen auch dabeihaben: Den Gedanken an die Geschehnisse von Paris.
Anna-Maria Wagner in Paris: Tränen und Trost
Domenic, Wagners Familie und Freunde waren in Paris dabei. Sie mussten der zweimaligen Judo-Weltmeisterin viel Trost spenden – ausgerechnet in der Stadt der Liebe. Denn Wagner liefen nach ihrem Wettkampf Tränen der Enttäuschung über die Wangen. Sie war mit Goldambitionen angereist.
Schließlich war sie wenige Monate zuvor zum zweiten Mal Weltmeisterin geworden. Sie wollte zumindest eine Einzel-Medaille nach Hause bringen – so wie vor drei Jahren in Tokio, als sie im Einzel und mit der Mannschaft Bronze gewann. Doch diese Medaille im Halbschwergewicht, die für viele Entbehrungen in den vergangenen Jahren entschädigt hätte, blieb ihr in Paris verwehrt. Vor allem der verlorene Kampf um Bronze gegen die frühere Vize-Weltmeisterin Ma Zhenzhao aus China erschütterte sie.
Die Achterbahnfahrt ihrer Gedanken- und Gefühlswelt ist ihr bei unserem Gespräch anzumerken, auch wenn sie ihre Sätze mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht garniert. "Der Herzschmerz, ohne Medaille nach Hause gekommen zu sein, sitzt noch tief. Aber ich habe in den Tagen nach dem Wettkampf viel Zeit mit meinen Freunden verbracht. Das war eine gute Ablenkung. Sie haben sich toll um mich gekümmert."
Die Risse in ihrer Seele sind schmerzhafter als die Knieverletzung, die Wagner in Paris erlitten hat. "Die kann ich in Ruhe auskurieren, das ist das kleinere Problem." Ihr Kopf hadert immer wieder mit ihrer Performance in Paris. "Ich habe alles dafür geopfert in den vergangenen Jahren, deshalb schmerzt es jetzt umso mehr. Zumal ich ja bewiesen habe, dass ich da oben stehen kann. Ich werde noch einige Wochen brauchen, um das zu verarbeiten."
Erinnerungen an Wagners Post-Olympia-Depression
Womöglich werden Gedanken an die Zeit nach den Olympischen Spiele von Tokio in ihr hochkommen. Wenige Wochen nach diesen Spielen rutschte die zweimalige Judo-Weltmeisterin, die in Köln lebt und trainiert, in eine handfeste Krise. Schleichend, aber unaufhaltsam glitt Wagner in eine Post-Olympia-Depression ab. Mit Hilfe eines Sportpsychologen fand sie eine Ausfahrt aus ihrer misslichen Situation, sie schrieb und redete sich ihre Schatten von der Seele. Und irgendwann bildeten ihre gestählte Physis und die sensible Psyche wieder eine Einheit.
Hat sie Angst, wieder in ein solches mentales Tal zu fallen? "Ich glaube, so ganz gewappnet ist man nie", sagt sie. "Aber ich mache viel mit Freunden. Es wäre jetzt fatal, allein irgendwo in der Wohnung zu sitzen." Jetzt geht es zunächst zur Familie, danach reist sie mit ihrem Freund in den Urlaub.
Sie ergänzt: "Ich versuche, schöne Ereignisse einzubauen, damit ich nicht in ein Loch rutsche. Ich möchte die Zeit, die ich jetzt zur Verfügung habe, genießen." Sie will nun nachholen, worauf sie in den vergangenen Jahren "meist gern" verzichtet hat. "Ich freue mich, ohne Zeitplan, Trainingslager und Verpflichtungen durch den Tag zu gehen. Ich kann das machen, worauf ich Lust habe."
Ihren Judo-Anzug wird sie definitiv bis zum Ende des Jahres zur Seite legen. "Da bleibe ich konsequent", sagt sie. "Die vergangenen drei Jahre waren extrem hart. So sehr ich diese Sportart liebe, so sehr genieße ich jetzt den Abstand." Wird sie ihre Wettkampf-Kleidung überhaupt jemals wieder anziehen? Ihre Antwort lässt einigen Spielraum. "Ich mache mir da keinen Druck. Ich lasse mein Körpergefühl entscheiden. Ist mein inneres Brennen für den Sport im nächsten Jahr da? Bin ich wieder bereit zu trainieren? Danach werde ich es entscheiden." Es könne sein, dass sie noch vier weitere Jahre im Judosport dranhänge. "Vielleicht auch nur zwei", meint sie. "Wir werden sehen."
Jetzt aber taucht Wagner erst mal in ein Leben jenseits des Leistungssports ein. Sie hofft, dass sie in einiger Zeit einen anderen Blick auf ihre Leistungen von Paris haben wird. "Der Abstand wird mir helfen. Irgendwann bin ich dann vielleicht sogar stolz, dass ich es überhaupt so weit geschafft habe."
So ganz scheint sie ihrer eigenen Zuversicht nicht zu trauen. Aber dann lacht sie wieder und strahlt über beide Ohren. So, als wollte sie sagen: Das wird schon.