Lina Bürger war 11, als Fußball-Nationalspieler Sebastian Deisler Anfang 2007 seine Karriere wegen psychischer Probleme beendete. Knapp drei Jahre später las die Jugendliche vom Suizid Robert Enkes. Der Nationaltorwart litt an schweren Depressionen. "Ich interessierte mich damals schon sehr für Fußball. Ich kann mich an beide Ereignisse noch sehr gut erinnern." Gerade im Fall Enke kann sie noch gut den Moment abrufen, als sie die schockierende Todesnachricht erfuhr. "Ich konnte es gar nicht glauben“, sagt sie im Gespräch mit SWR Sport.
Diese Ereignisse machten etwas mit der jungen, in Wiesbaden geborenen Fußballerin. "Das waren ganz große Ausrufezeichen. Ich realisierte, dass es dieses Thema mentale Gesundheit gibt."
Reden über "Stimmungsschwankungen", aber nicht über Ängste und Depressionen im Fußball
Mit 15 kam die talentierte Fußballerin nach Hoffenheim. Die Stürmerin schaffte den Sprung in die Nachwuchs-Nationalteams des DFB und absolvierte 75 Bundesligaspiele für die TSG Hoffenheim und später für den SC Freiburg. Im Kreis der Teamkolleginnen wurde fast nie über Depressionen oder Ängste gesprochen. In Verletzungssituationen schon eher über "Stimmungseinbrüche" oder "Stimmungsschwankungen".
Bürgers Karriere war geprägt von Verletzungen. Mit 26 musste sie ihre sportliche Laufbahn wegen schwerer Knieprobleme frühzeitig beenden. Eine harte Zeit für die Sportlerin. Sie fiel mental in ein Loch. "Im Verein habe ich das nicht groß kommuniziert und mir extern Unterstützung geholt. Ich verstehe es, dass es viele so machen." Sie weiß:
Das Thema mentale Gesundheit ließ sie nicht mehr los, es wurde immer wichtiger für sie. Bürger begann ein Psychologie-Studium in Heidelberg. Das Thema ihrer Masterarbeit war schnell gefunden. Sie wollte mit ihrer Studie erfahren: Wie steht es um die psychische Gesundheit der Fußballerinnen und Fußballer bei der TSG Hoffenheim?
Die Türen standen ihr offen. In Hoffenheim beschäftigen sie sich schon seit vielen Jahren mit dieser Thematik. Hans-Dieter Hermann, Psychologe beim DFB-Team, arbeitete jahrelang für die TSG, Hoffenheim-Geschäftsführer Jan Mayer ist ein hoch anerkannter Sportpsychologe. Und mit dem TSG Research Lab gab es ein Forschungsinstitut vor Ort, wo es eine regelmäßige Diagnostik gibt. Dies erleichterte die Arbeit Bürgers.
Rückmeldung von 205 Aktiven von der U12 bis zu den Profis
Die ehemalige Profifußballerin, die als Sportpsychologin die Hoffenheimer Teams von der U12 bis zur U14 betreut, weitete ihr Umfeld aus: Über den Zeitraum der kompletten Spielzeit 2022/23 arbeitete sie mit elf Mannschaften der TSG Hoffenheim - von der U12 bis zu den Profis (Männer und Frauen) - zusammen. Insgesamt flossen die Aussagen von 205 Akteuren zu Symptomen von Depressionen und Angststörungen in die Studie ein. Der Trainerstab wurde nicht befragt.
Die Spielerinnen und Spieler wurden vier Mal in der Saison um Auskunft gebeten. Somit konnte nachvollzogen werden, wie sich die Akteure zu Saisonbeginn fühlten - und wie sich dies im Saisonverlauf veränderte.
Die wichtigsten Ergebnisse der Studie:
Auch im Profifußball gibt es Personen, die von Depressionen und Angststörungen betroffen sind
Wie in der Normalbevölkerung gibt es auch in den Teams der TSG Hoffenheim Personen, die von Depressionen und Angststörungen betroffen sind. Dies zieht sich durch alle an der Studie teilnehmenden Mannschaften. Es gab bei der Befragung kein Team, das nicht betroffen war. Und: Wie in der Gesamtbevölkerung sind auch in Hoffenheim Frauen anfälliger für Depressionen und Angststörungen.
Die Symptome nahmen während des Saisonverlaufs zu
Eine Fußballsaison kann nicht nur für den Körper, sondern auch für die mentale Gesundheit kräftezehrend sein. Während die Werte während der Sommervorbereitung noch unterdurchschnittlich waren, stiegen sie im Verlauf der Saison an. Im Winter gab es einen kleinen Zuwachs; dies entspricht den Werten in der Normalbevölkerung (u.a. wegen der Dunkelheit und des unangenehmeren Wetters). Die Werte sanken allerdings auch nicht im Frühling und gegen Saisonende. "Die auftretenden Symptome sind also nicht allein auf einen 'Wintereffekt' zurückzuführen", sagt Bürger.
Höhepunkt der Angstsymptome im Winter
Während die Werte an depressiven Symptomen im Saisonverlauf kontinuierlich anstiegen, gab es bei den Angstsymptomen einen Höhepunkt im Winter. "Dies führen wir darauf zurück, dass gerade im Winter, zu Beginn der Rückrunde, viele Zukunftsentscheidungen fallen: Individuelle Vertragsgespräche, Entscheidungen im Nachwuchsbereich, ob man in den nächsten Jahrgang übernommen wird, oder die Unsicherheit über die sportliche Situation des Teams. Im Frühling sank dieser Wert dann wieder auf das Ausgangsniveau zurück."
Schlussfolgerungen aus der Studie
Als erste Maßnahme stellten die insgesamt vier Psychologinnen und Psychologen der TSG Hoffenheim die Ergebnisse den Trainern in der TSG-Akademie im Rahmen von Workshops vor. Fortbildungen für die Spielerinnen und Spieler sind in Planung. Hierbei findet es Lina Bürger wichtig, dass vor allem individualisierte und langfristige Angebote für die Spieler gemacht werden. "Angebote für eine vulnerable Gruppe sind sinnvoller als für das gesamte Team", sagt die Psychologin, die derzeit an der Universität Heidelberg zur Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche ausgebildet wird. Zudem sei eine Sensibilisierung des Umfelds wichtig, dass es im Winter eine instabile Phase für die Spieler gebe. "Dann sollte nicht unnötig Druck aufgebaut werden", rät Bürger.
Zusätzlich zu den Workshops hat der Verein die Kooperation mit der Uniklinik Heidelberg forciert. Hier können sich betroffene Spielerinnen und Spieler direkt an Experten auf dem Gebiet der Sportpsychiatrie wenden.
Jeder Profi muss selbst entscheiden, ob er an die Öffentlichkeit geht
Bürger und der TSG Hoffenheim ist es ein Anliegen, dass die Öffentlichkeit für das Thema mentale Gesundheit zunehmend sensibilisiert wird. Dabei helfe es, wenn prominente Fußballprofis wie Robin Gosens, Timo Baumgartl, Nils Petersen, Martin Amedick, Markus Miller oder Per Mertesacker offen und öffentlich darüber sprächen. Sie selbst würde keinen aktiven Profi dazu drängen, mit seinen mentalen Problemen in die Öffentlichkeit zu gehen. "Das muss jeder selbst entscheiden. Es kann befreiend, aber auch stigmatisierend sein. Es ist ja kein Zufall, dass sich viele ehemalige Sportler erst nach ihrer Karriere zu diesem Thema äußern." Generell könne der Profifußball noch einiges lernen.
Unter mentaler Stärke versteht man die Fähigkeit, auch unter widrigen Umständen die beste Leistung zu erbringen. Diese Fähigkeit benötigen Leistungssportler in jedem Wettkampf. Es bedeutet allerdings nicht, dass man gleichzeitig auch seelisch gesund ist. Denn Sportlerinnen und Sportler sind während ihrer Karriere massiven Belastungen ausgesetzt. Durch diese kann die seelische Gesundheit geschwächt kann.
Mit dem Wissen von heute hätte Bürger damals, als aktive Profifußballerin, einiges anders gemacht. "Ich hätte mir als Spielerin früher regelmäßige Unterstützung von einer Sportpsychologin geholt - gerade bei Verletzungen, aber auch, wenn es gut läuft. Damit man da eine gewisse Routine hinbekommt, sich regelmäßig auszutauschen und im Gespräch zu bleiben."
Diese und andere wichtige Erkenntnisse vermittelt sie jetzt vor allem dem Fußballnachwuchs. Aber auch die Hoffenheimer Profis werden weiterhin an diesem wichtigen Prozess beteiligt.