Olympia 2024

Imane Khelif: Zu "männlich" für den Frauensport?

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Autor/in
Veronika Simon
Portraitbild von Veronika Simon, Multimedia-Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell
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Emily Burkhart
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Athletinnen und Athleten – Frauen und Männer. Im Sport ist diese Trennung scharf, in der Biologie nicht. Das führt zu Problemen.

Imane Khelif ist Boxerin, sie hat es bis ins Finale des olympischen Turniers geschafft. Doch das ist nicht der Grund, weshalb aktuell weltweit über sie gesprochen wird. Seit ihre  italienische Kontrahentin nach nur wenigen Sekunden den Kampf aufgeben musste, wird öffentlich  in Frage gestellt, ob Khelif „weiblich“ genug sei, um im Frauenturnier antreten zu dürfen.

Dass die geschlechtliche Identität von Profisportlerinnen in Frage gestellt wird, ist nicht neu, sagt Dennis Krämer. Der Soziologe forscht an der Universität Münster zu Intersexualität im Leistungssport. Doch in den letzten Jahren sei das Thema präsenter geworden.

Testosteron-Kontrolle statt Blick in die Unterhose

Solche Abweichungen in der menschlichen Entwicklung sind selten, aber sie zeigen: Biologisch gibt es mehr als die zwei offensichtlichen Geschlechter und keine scharfe Trennung. Auch rechtlich ist das in Deutschland mittlerweile anerkannt: Seit 2018 gibt es den offiziellen Geschlechtseintrag „divers“, im November 2024 tritt das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz in Kraft, sodass jeder Mensch selbst entscheiden kann, welcher Eintrag am besten passt.

"In den meisten Sportdisziplinen wird jedoch davon ausgegangen, dass Männer und Frauen getrennt werden müssen, damit es gerecht bleibt. Im Zentrum stehen dabei elementare Prinzipien des Leistungssports wie Chancengleichheit und Fairplay. 

Die Grenze zwischen den beiden Kategorien – Athleten und Athletinnen - wird im modernen Sport über medizinische Grenzwerte gezogen: Heute schaue man hierzu vor allem auf den Testosteron-Wert, so der Soziologe von der Universität Münster. „Früher, ab dem Jahr 1967, hat der Weltsportverband der Leichtathletik den Zugang zur Frauenkategorie noch über Chromosomentests reguliert“, so Krämer. „Und davor wurde der Zugang zur Frauenkategorie durch Überprüfungen der Geschlechtsteile geregelt.” Diese Kriterien seien alle sehr zum Nachteil von intersexuellen Personen gewesen. “Menschen, die chromosomale Variationen wie XXY oder X0/XY-Mosaiken aufweisen, würden hier gar nicht mitgedacht werden." 

Früher galt als im Sport Mann wer XY-Chromosome aufweist und als Frau wer XX-Chromosome besitzt. Dies war jedoch deutlich zum Nachteil von intersexuellen Personen.
Der Mensch hat üblicherweise 23 Chromosomen-Paare. Doch zwei davon sind besonders: Die Geschlechtschromosomen bestimmen, ob jemand genetisch als weiblich (XX) oder männlich (XY) eingestuft wird. Es gibt jedoch auch Menschen, welche genetisch nicht eindeutig in das männliche oder weibliche Schema passen.

Ein Blick in die Unterhose der Sportlerinnen wie noch in den 1960er-Jahren  – das gibt es nicht mehr. In der Leichtathletik beispielsweise gilt heute die Regel, dass intersexuelle Sportler:innen einen Testosteron-Wert von maximal 2,5 Nanomol pro Liter im Blut aufweisen dürfen, um bei den Frauen-Wettbewerben mitmachen zu dürfen. Wenn sie diesen überschreiten, müssten sie ihr Testosteronlevel medikamentös senken.

Testosteronwerte bei Frauen variieren

Testosteron gilt als „männliches“ Geschlechtshormon – auch wenn das Hormon bei Frauen ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, sagt Julia Szendrödi. Sie ist ärztliche Direktorin der Klinik für Endokrinologie an der Uniklinik Heidelberg. Es gebe deutliche Unterschiede im Hormonhaushalt – allerdings auch zwischen Menschen des gleichen Geschlechts.

Bei Frauen hat man einen Referenzbereich, was normale Testosteronwerte anbelangt zwischen 0,4 und 2,5 Nanomol pro Liter.

Dieser Wert sei aber insgesamt ungefähr 17-fach niedriger als bei Männern. Doch auch bei biologischen Frauen, bei denen keine Intersexualität vorliegt, könne es unterschiedliche Ursachen für einen erhöhten Testosteron-Spiegel geben, so Szendrödi vom Uniklinikum Heidelberg. Ein Beispiel: Das Polycystische Ovarial-Syndrom – eine Hormonstörung bei Frauen, die sich meist im jungen Erwachsenenalter zeigt. Betroffene zeigten oft auch andere Anzeichen einer „Vermännlichung“ wie einer verstärkten Körperbehaarung, so die Endokrinologin. Auch eine Unfruchtbarkeit könne die Folge sein.

Ist ein Testosteron Test wirklich sinnvoll, um zu entscheiden wer im Sport als Frau antreten darf und wer nicht?
Ist ein Testosteron Test wirklich sinnvoll, um zu entscheiden wer im Sport als Frau antreten darf und wer nicht?

Testosteron hilft beim Muskelaufbau

Neben der Geschlechtsentwicklung hat Testosteron auch einen Effekt auf den Stoffwechsel und damit auf die Entwicklung der Muskulatur. Das heißt: Die Muskeln von Menschen mit einem höheren Testosteronwert reagierten meist besser auf ein gezieltes Training, erklärt Patrick Diel, Professor für molekulare Sportmedizin an der Sporthochschule Köln.

"Sie können mehr Muskelmasse aufbauen. Wenn das in einem vernünftigen Trainingszusammenhang geschieht, dann kann das auch darin resultieren, dass diese Personen eben schneller und stärker sind als andere", so Diel. Nicht umsonst würde Testosteron trotz teils erheblicher Nebenwirkungen als Dopingmittel verwendet.  

Aber bedeutet viel Testosteron automatisch eine bessere Leistung? So einfach ist es dann auch wieder nicht. Es komme auf weitere Faktoren an, so Diel – um Beispiel, wie das Gewebe auf Testosteron reagiere. Auch Frauen mit einem erhöhten Testosteronspiegel seien nicht automatisch leistungsstärker, erklärt Julia Szendrödi von der Uniklinik Heidelberg, das hänge immer auch von der körperlichen Ursache dieser hormonellen Besonderheit ab. 

Aufgrund hoher Testosteronwerte werden Frauen und Männer im Sport häufig des Dopings verdächtigt.
Aufgrund hoher Testosteronwerte werden Frauen und Männer im Sport häufig des Dopings verdächtigt.

Der leistungssteigernde Effekt von Testosteron wirke sich auch nicht bei allen Sportarten gleich aus, erklärt der Sportmediziner Diel: „In allen Sportarten, wo es um Schnelligkeit und Kraft geht, ist es von großem Vorteil.“ Beispiel wären Sprint-Disziplinen oder Weitsprung. „Wir reden da aber auch über Kampfsportarten wie Boxen oder über Gewichtheben“, so Diel.

Die Wissenschaftliche Grundlage ist dünn

Bei technischen Disziplinen sei die Wirkung weniger relevant, genauso bei Teamsportarten. Allerdings sei es schwierig in Studien sauber nachzuweisen, wie groß der Leistungsvorteil durch einen erhöhten Testosteronwert bei welcher Disziplin genau sei, so Diel. Wo zieht man die Grenze und erlaubt Athletinnen den Start nur mit gesenktem Hormonspiegel? Bei Mittelstrecken bis 1500 Meter oder eher bei 10.000 Meter-Läufen? Oder erst beim Marathon?

"Wenn man da die wissenschaftliche Literatur durchschaut, findet man nichts, was diese Linie klar zieht. Alles, was man aktuell hat, sind Vermutungen auf Basis von Erfahrungen oder physiologischen Erkenntnissen", erklärt Diel. Das olympische Komitee habe es darum den einzelnen Sportverbänden überlassen, zu entscheiden, unter welchen Bedingungen intersexuelle Menschen antreten dürfen.  

Besonders groß: Jubel. Besonders viel Testosteron: Ausschluss.

Für den Soziologen Dennis Krämer ist ein weiterer Punkt interessant: Bei anderen Sportlerinnen und Sportlern würden körperliche Besonderheiten von der Öffentlichkeit gefeiert. Ein Beispiel: Die Turnerin Simone Biles. „Sie ist aktuell auch sehr erfolgreich in Paris - sie ist 1,42 Meter groß und außergewöhnlich leistungsstark im Turnen“, so Krämer. „Oder Shaquille O'Neal, der ist 2,16 Meter groß und war ein sehr dominanter, starker Spieler in der US-amerikanischen Basketballliga NBA. Das sind beides besondere Menschen mit besonderen Körpern, die zu besonderen Leistungen im Sport befähigen.“ 

Caster Semanya bei den Olympischen Spielen in London 2012. Auch sie wurde als intersexuelle Frau im Sport für ihre hohen Testosteron-Level kritisiert.
Caster Semanya bei den Olympischen Spielen in London 2012. Auch sie wurde als intersexuelle Frau im Sport für ihre hohen Testosteron-Level kritisiert.

Auf die intersexuelle Leichtathletin Caster Semanya aus Südafrika würde hingegen ganz anders geschaut, so Krämer: "Sie hat wahrscheinlich auch einen Körper, der sie zu besonderen Leistungen befähigt. Dieser Körper ist aber nicht überdurchschnittlich klein oder groß oder schwer oder stark - er produziert, soweit wir wissen, mehr Testosteron. Wobei man sagen muss: Wie groß der Effekt des Hormons auf ihre Leistung wirklich ist, ist wissenschaftlich nicht geklärt."

Nach den aktuellen Regeln des Weltleichtathletik-Verbands darf Caster Semanya an internationalen Wettbewerben nicht antreten, solange sie ihren Testosteronwert nicht künstlich senkt, was sie ablehnt.   

Der aktuelle Umgang mit intersexuellen Athletinnen, die natürlicherweise einen erhöhten Testosteronspiegel im Blut aufweisen, sei auch aus sportlicher Sicht schwierig, findet Patrick Diel von der Sportschule Köln:  

Diese Personen betreiben ja kein bewusstes Doping – sie wurden so geboren. Die sind weiblich sozialisiert, haben hart trainiert und ihnen bedeutet der Sport sehr viel.

Auslöser der Debatte bei Olympia: Imane Khelif gewinnt nach nur wenigen Sekunden gegen ihre italienische Kontrahäntin. Bei einer früheren Veranstaltung sei sie wegen für Frauen zu hohem Testosteron disqualifiziert worden.
Auslöser der Debatte bei Olympia: Imane Khelif gewinnt nach nur wenigen Sekunden gegen ihre italienische Kontrahäntin. Bei einer früheren Veranstaltung sei sie wegen für Frauen zu hohem Testosteron disqualifiziert worden.

Öffentlicher Zweifel an Weiblichkeit diskriminierend und verletzend

Problematisch sei auch, dass der Ausschluss aus der Frauenkategorie als öffentlich geäußerter Zweifel an ihrer Weiblichkeit verstanden würde, erklärt Dennis Krämer: „Das muss man sich mal vorstellen: Man tritt in einem internationalen Sportevent mit vielen Millionen Zuschauenden an und plötzlich wird über die Presse konstatiert: Man sei keine Frau, sondern ein Mann.”

Zum Teil werde so getan, als würde jemand vorsätzlich "falsch” antreten. Das Geschlecht öffentlich in Frage zu stellen könne äußerst verletzend und diskriminierend empfunden werden.

Erste Schritte in Richtung Inklusion gemacht

Für dieses Dilemma - Sportliche Fairness auf der einen und eine Inklusion von intersexuellen Leistungssportler:innen auf der anderen Seite - gebe es keine schnelle Lösung, so der Soziologe von der Universität Münster. Erste Schritte in die richtige Richtung seien gemacht – zum Beispiel durch die Einführung von Mixed Teams bei den Olympischen Spielen.

Aber da müsse noch viel passieren, so Krämer: „Der Sport muss moderner werden. Und er muss auch über das Thema Intersexualität aufklären und die nach wie vor häufig schwierigen Lebenssituationen von intersexuellen Menschen aufklären.” Doch der Sport sei auf dem richtigen Weg. “Der IOC Präsident Thomas Bach hat eine geschlechter-inklusive Haltung, die ich sehr schätze.", so Krämer.

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