Modellorganismen

So wichtig sind Fruchtfliegen für die Forschung

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Autor/in
Ulrike Till
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Onlinefassung
Leila Boucheligua
Emily Burkhart
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Bis zu 100 Eier kann ein Fliegenweibchen täglich legen. Was Laien nervt, ist für die Forschung weltweit ein Segen: Die Fruchtfliege drosophila ist ein wichtiger Modellorganismus.

Fruchtfliegen können schnell zur Plage werden. Für die Forschung ist ihre schnelle Vermehrung enorm wertvoll: Genetik, Evolution, aber auch Krankheiten wie Diabetes, Alzheimer oder Krebs lassen sich am Beispiel von drosophila untersuchen. 1995 bekam die Tübinger Biologin Christiane Nüsslein-Vollhard für ihre Fliegenforschung einen Medizin-Nobelpreis.

Noch immer gibt es ein drosophila-Labor am Tübinger Max-Planck-Institut für Biologie

25 Grad und 65 Prozent Luftfeuchtigkeit – so mögen es die Fliegen im Friedrich-Miescher-Laboratorium am liebsten. In wandhohen Regalen stehen hunderte kleiner Glasröhrchen voller drosophila. Andere wimmeln in durchsichtigen Boxen oder in der mit Essig gefüllten Fliegenfalle.

Ein paar entkommen immer – auch in der Kaffeeküche sitzen einige auf den Keksen. Für die Leiterin der Forschungsgruppe, Dr. Luisa Pallares, ist das gar kein Problem: 

"Ich liebe sie! Wenn Leute sich über die Fliegen in ihrer Küche beschweren, sage ich immer, sie sind doch wunderschön, schickt sie mir, ich nehme sie in mein Labor auf."

Luisa Pallares hält Behälter mit Fruchtfliegen in die Luft, tags: Fliegen Fruchtfliegen Forschung
Luisa Pallares forscht mithilfe von Fruchtfliegen am Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max Planck Gesellschaft.

Die Fliegen in den kleinen Röhrchen sind genetisch alle identisch. In den durchsichtigen quadratischen Kästen dagegen hat jedes Exemplar andere Eigenschaften. So lassen sich Evolutionsprozesse am besten beobachten: 

"In diesen supergroßen Käfig hier passen 100.000 Fliegen. Diese Boxen sind halb so groß wie ein Mensch. Jede Fliege darin hat ein anderes Genom, jede hat ihre Besonderheiten: sie fliegen unterschiedlich, sie essen mehr oder weniger, sie werden mehr oder weniger krank. Sie unterscheiden sich genauso voneinander wie wir Menschen."

Kästen mit Fruchtfliegen, tags: Fliegen Fruchtfliegen Forschung
Die Fruchtfliege ist ein wichtiger Modellorganismus in der Forschung. Unter anderem, weil sie sich so schnell vermehrt.

Fliegen und Menschen ähneln sich genetisch in hohem Maße

Natürlich lassen sich Beobachtungen an Fruchtfliegen nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Aber die drosophila-Forschung kann trotzdem wichtige Erkenntnisse auch für die menschliche Genetik und Gesundheit liefern.

Denn: Fliegen unterscheiden sich nicht grundlegend von Menschen: Wir teilen 60 Prozent unserer Gene mit ihnen, sagt Pallares. Mehr noch: Es fänden sich sogar 95 Prozent der Gene, die in Menschen Krankheiten auslösen, auch bei Fliegen.

Einige Labore nutzen Fruchtfliegen, um mehr über die Mechanismen beim Altern, bei Krebs oder Alzheimer zu erfahren. Die Tübinger Max-Planck-Gruppe interessiert sich dagegen vor allem dafür, wie sich Lebewesen an ungesunde Ernährung anpassen: 

"Wir interessieren uns sehr dafür, was viel Zucker bei den Fliegen auslöst. Das ist sehr relevant für Menschen, wenn Sie an Krankheiten wie Diabetes denken. Keiner weiß, dass Fliegen ein Modell für Diabetes sind. Sie entwickeln dieselben Symptome wie Menschen: sie werden insulinresistent und immer fetter. Wenn man eine Fliege aufschneidet, die sehr viel Zucker gegessen hat, quillt weißes Fett heraus. Sie sterben auch schneller – sie werden genauso krank wie Menschen."

Fruchtfliegen naschen an einer orangenen Frucht. Werden Fliegen in der Forschung mit viel Zucker gefüttert, entwickeln sie so auch Diabetes-Symptome.
In Tübingen wird erforscht, was viel Zucker bei den Fliegen auslöst. Das ist sehr relevant für Menschen, denn die Fruchtfliegen entwickeln dieselben Symptome wie Menschen: sie werden insulinresistent und nehmen zu.

Auch in der Forschung zur Evolution werden Fruchtfliegen gerne eingesetzt

Pallares und ihr Team wollen in drei Jahren, also bei etwa 100 Generationen von Fliegen beobachten, wie sie auf die viel zu süße Kost reagieren: Welche Tiere überleben länger und gesünder als ihre Artgenossen – und welche Änderung im Erbgut hat das ermöglicht? Die Fliegen bekommen eine Mischung aus Wasser, Zucker und Hefe. Bei der Zubereitung hilft ein kleiner Plastikkasten, den schon die Tübinger Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Vollhard benutzt hat: 

"Sie hat mir gesagt, Luisa, ich habe diese kleine Maschine, mit der wir Fliegenfutter zubereitet haben – das war vor 60 Jahren – sie steht immer noch bei mir im Keller, wenn Du sie haben willst. Jetzt benutzen wir also die Fliegenfutterpumpe, mit der Christiane den Nobelpreis gewonnen hat."

Das Gerät, also der kleine Plastikkasteb, der bei der Zubereitung des Futters für die Fliegen hilft, den schon die Tübinger Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Vollhard in ihrer Forschung benutzt hat. Die Fruchtfliegenliegen bekommen eine Mischung aus Wasser, Zucker und Hefe.
Bei der Forschung kommt auch dieses fast 30 Jahre alte Gerät zum Einsatz. Diese Fliegenfutterpumpe hat bereits die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Vollhard verwendet.

Seit kurzem lässt sich die natürliche Evolution der Fruchtfliege extrem beschleunigen. Die Tübinger drosophila-Gruppe hat dafür zusammen mit Forschenden in Heidelberg die Methode TF-HighEvo entwickelt – ein Quantensprung für die Arbeit mit drosophila: "Wenn vorher ein Evolutionsexperiment zehn Jahre gedauert hat, klappt es jetzt in sechs Monaten."

Fliegen sind komplexe Lebewesen

Auch für das Gehirn ist die Fruchtfliege ein wichtiger Modellorganismus. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz lassen sich dabei ganz neue Erkenntnisse gewinnen. Diese besondere Form der drosophila-Forschung kommt ganz ohne lebende Fliegen aus – sie nutzt nur die biologische Grundlagenforschung für ihre Hochrechnungen.

Jakob Macke, Professor für Maschinelles Lernen an der Uni Tübingen ist fasziniert von den besonderen Fähigkeiten des Fliegenhirns: 

"Die Fliege ist zwar ein sehr kleines Tier und sehr weit weg vom Menschen. Aber, wenn man es sich anguckt, können Fliegen sehr viele komplizierte Sachen machen: fliegen, gehen, ihren Weg finden und auch wieder zurückfinden. Sie können Paarungspartner finden, Raubtiere erkennen und dann ausweichen. Das heißt, es gibt sehr viele komplexe Aufgaben, die sie lösen können. Und all das machen sie mit diesem kleinen Minigehirn."

Viele kleine in der Forschung verwendete Fruchtfliegen fliegen durch einen großen Käfig.
Die Fruchtfliege ist außerdem ein wichtiger Modellorganismus für das menschliche Gehirn. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz lassen sich dabei ganz neue Erkenntnisse gewinnen, ganz ohne Forschung an lebenden Fliegen. Die KI nutzt nur die biologische Grundlagenforschung für ihre Hochrechnungen.

Mit KI lassen sich die wahrscheinlichsten Reaktionen im Sehsystem berechnen

Doch obwohl das Fliegenhirn so klein ist, lässt es sich noch längst nicht komplett am Rechner simulieren. Jakob Macke und seinem Team ist aber ein wichtiger erster Schritt dorthin gelungen: Die biologischen Schaltkreise des Sehsystems sind bekannt. Dank KI gibt es nun erstmals ein Modell, das die wahrscheinlichsten Reaktionen im Detail berechnen kann: 

"Das heißt, was wir jetzt haben, ist ein Modell, das für jede einzelne Zelle im visuellen System der Fliege eine Vorhersage macht, wie diese Zelle agieren wird auf einen visuellen Reiz."

Mehrere Fruchtfliegen in einem Röhrchen. In der Forschung sind die lebenden Fliegen leider noch nicht überflüssig.
Doch durch künstliche Intelligenz wird die Forschung an lebenden Fruchtfliegen noch nicht überflüssig. Aber sie lässt sich durch das KI-Modell künftig leichter und präziser planen.

Versuche mit echten Fliegen im Labor werden dadurch nicht überflüssig, betont Jakob Macke. Aber sie lassen sich künftig leichter und präziser planen – das KI Modell hilft dabei, sich auf die aussichtsreichsten Experimente zu konzentrieren. Mittlerweile ist es sogar denkbar, eines Tages den kompletten Fliegenorganismus zu simulieren, erklärt Macke: 

"Inzwischen gibt es relativ detaillierte physikalische Modelle der Gesamtfliege, die laufen können, die fliegen können. Damit kann man vielleicht in ein paar Jahren simulierte Fliegen sowohl des Körpers als auch des Fliegengehirns bauen. Das würde natürlich eine Vielzahl an Studien möglich machen, in denen wir komplette Experimente zuerst simulieren können, bevor sie dann experimentell getestet und ausgeführt werden."

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