Laut der repräsentativen Studie "Schulbarometer 2024" bewertet mehr als ein Viertel der befragten Kinder und Jugendlichen die eigene Lebensqualität als niedrig. Ein Fünftel beschreibt sich selbst als psychisch belastet und ebenso viele klagen über ein geringes schulisches Wohlbefinden. Sie sind auch unzufrieden mit ihren Lehrerinnen und Lehrern.
Wir ordnen die Ergebnisse mit Dr. Dagmar Wolf ein. Sie ist Leiterin im Bereich Bildung bei der Robert-Bosch-Stiftung.
Jochen Steiner, SWR Impuls: Die Ergebnisse des Schulbarometers hören sich ja so an, als ob nur wenige Schülerinnen und Schüler in Deutschland gar keine Probleme in der Schule haben. Stimmt das so?
Dr. Dagmar Wolf: Ich glaube, man kann schon sagen, dass das Belastungserleben von Schülerinnen und Schülern deutlich zugenommen hat und wirklich inzwischen auch eine breite Basis der Schülerinnen und Schüler erreicht hat.
Viele Schülerinnen und Schüler vermissen direktes Feedback zu ihren Leistungen
Jochen Steiner: In Ihrem Bericht steht, dass die Unterrichtsqualität maßgeblich die psychische Gesundheit der Schülerinnen und Schüler beeinflusst. Wie sind da die Zusammenhänge?
Dagmar Wolf: Die Zusammenhänge sind relativ komplex. Viele Schülerinnen und Schüler berichten, dass ihnen im Unterricht gezielt die Rückmeldung von Lehrkräften zu ihrem Leistungsstand fehlt. Es fehlt vor allem auch die Rückmeldung dazu, was sie schon können und was sie eben auch nicht können. Und es fehlen Informationen darüber, wie sie die Dinge, die sie nicht können, dann entsprechend nachholen oder wie sie sie gut lernen können.
Jochen Steiner: Und das beeinflusst auch ihre Psyche negativ?
Dagmar Wolf: Ja, genau dieses Feedback, das ist das, was Schülerinnen und Schülern fehlt und was sie auch in den Antworten einfordern.
Es fehlen oft geschulte Lehrkräfte zur psychologischen Betreuung der Kinder und Jugendlichen
Jochen Steiner: Wenn jetzt aber wirklich ein psychischer Leidensdruck entsteht, also bis hin zu psychischen Krankheiten, bekommen die betroffenen Kinder und Jugendlichen dann auch ausreichend Hilfe?
Dagmar Wolf: Es ist natürlich auf unterschiedlichen Ebenen zu betrachten. Wir haben einmal im Moment das Problem, dass unsere Versorgungslage schlecht ist. Wenn sie als Kind und als Jugendlicher einen Platz brauchen bei einem Therapeuten, müssen viele mit Wartezeiten von fünf bis sechs Monaten rechnen. Das ist eben, wenn es akute Probleme gibt, einfach viel zu lang und ist schon eine große Herausforderung.
Das, was die Schülerinnen und Schüler angeben, ist ja auch: Sie bekommen oft auch nicht die Hilfe in der Schule, die sie bräuchten, weil Lehrkräfte das Problem manchmal auch nicht sehen, Schülerinnen und Schüler dann aber auch nicht den Mut haben, das anzusprechen.
Auch das hat unterschiedliche Gründe. Wir haben auch erfragt, wie oft es zum Beispiel Klassenleiter- oder Klassenlehrerstunden gibt. Die gibt es in der Regel in allen Klassen. Aber sie finden unterschiedlich häufig statt. Und das sind natürlich auch die Stunden, die gerne von Kürzungen betroffen sind, wenn Lehrkräfte woanders aushelfen müssen, weil an den Schulen durch Krankheiten oder durch fehlendes Personal Lehrerstunden in irgendeiner Weise gewonnen werden müssen.
Speziell ausgebildete Ersthelfer zur Betreuung von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Problemen
Jochen Steiner: Wenn Lehrerinnen und Lehrer mitbekommen, der Schülerin oder dem Schüler geht es nicht gut. Was könnten Sie denn machen, damit es am besten gar nicht so weit kommt?
Dagmar Wolf: Ich glaube, wichtig ist die Beziehung. Da sagen immerhin 17 Prozent der Schülerinnen und Schüler, dass die Beziehung zu ihren Lehrkräften gut ist. Wichtig ist einfach, dass Lehrkräfte auch über Hilfesysteme Bescheid wissen, dass es eine gute Einbindung der Schulsozialarbeit gibt.
Wenn es diese Schulsozialarbeit gibt, sollte der Weg zur Schulpsychologie klar sein: Wie kann ich die erreichen? Das, was hier möglich ist, sollte entsprechend wirklich sehr schnell auch von den Lehrkräften organisiert werden. Dazu müssen wir aber auch unsere Lehrkräfte besser ausbilden. Wir brauchen an den Schulen auch Ersthelferinnen zum Thema psychische Gesundheit.
Das ist eine Ausbildung, die man berufsbegleitend machen kann, doch viel bekannter werden müsste. Hier müssen wir noch mehr Ressourcen aktivieren, um das, was vorhanden ist, auch nutzen. Lehrkräfte handeln ja nicht aus Nachlässigkeit, sondern oft, weil sie nicht dafür geschult sind, die Dinge auch nicht erkennen und oft auch unter Zeitdruck und unter einem großen Druck im Hinblick auf ihre Arbeitsleistung handeln.
Lehrer und Lehrerinnen sollten zunehmend zu Lernbegleitern weitergebildet werden
Jochen Steiner: Wie sollte denn der Unterricht aussehen, damit eine psychische Belastung gar nicht entsteht?
Dagmar Wolf: Ich glaube, wir brauchen im Unterricht eine starke Hinwendung zu einem sehr viel größeren individuellen Schülerinnen- und Schüler-Feedback. Schülerinnen und Schüler sollten sehr viel schneller und unmittelbarer Rückmeldung zu ihrer Leistung bekommen. Da gibt es auch Beispiele im deutschen Schulpreis von Schulen, die so etwas machen.
Dann haben wir Schulen, die ihre Lehrkräfte systematisch auch zu Coaches als Lernbegleiter ausgebildet haben, in denen sich die klassische Lehrer-Schüler-Rolle immer mehr verändert, hin zum Lernbegleiter, der auch sehr viel individueller berät, individueller unterstützt. Und ich glaube, das sind zwei Beispiele, die zeigen, wie es gelingen kann.
Schule ist bislang oft der "Reparaturbetrieb unserer Gesellschaft"
Jochen Steiner: Das heißt: Trotz Personalmangel hier und dort ist es möglich, dass die Förderung noch individueller wird? Das wird ja schon seit Jahren und Jahrzehnten "gepredigt", passiert ist es aber noch nicht überall?
Dagmar Wolf: Wir sehen, dass an den Schulen, die wir auszeichnen, dass es dort möglich ist. Das sind Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben, die das als Schulkonzept für sich identifiziert haben und sich dann entsprechend weitergebildet haben.
Man muss auf der anderen Seite sagen, dass man nicht alles in der Schule abladen kann. Wenn Schule der Reparaturbetrieb unserer Gesellschaft ist - und das ist sie momentan - dann müssen wir auch über die Aufgaben von Schulen reden und über die Ausstattung.
Und dann müssen wir den Sozialraum einbeziehen. Es muss dann einfach auch mehr Unterstützungsangebote geben. Es muss eine engere Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe stattfinden. Man muss genau hinschauen, welche Schulen mehr Unterstützung brauchen durch Schulsozialarbeit und entsprechend dann die Hilfesysteme auch enger fassen.
Ohne schnelles Handeln könnte wir ganze Schülergenerationen verlieren
Jochen Steiner: Sehen Sie da einen Fortschritt in letzter Zeit? Das sind ja alles keine neuen Punkte, die sie gerade nennen. Speziell für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, geht es da wenigstens ein Stück weit voran?
Dagmar Wolf: Ich glaube, dass wir momentan schon einen Fortschritt dahingehend sehen, dass die Themen überhaupt auch das aufs Tapet kommen, dass man darüber spricht. Jetzt sind Schulsysteme natürlich große Tanker, die auch nicht schnell zu verändern sind. Es gibt jetzt immerhin Ausbildungen zu psychosozialen Ersthelfern.
Das sind erste Schritte in die richtige Richtung. Aber wir müssen einfach schneller handeln, weil wir sonst Schülergenerationen verlieren. Und wir reden heute schon davon, dass die psychischen Erkrankungen inzwischen alle anderen Erkrankungen auf dem Weg hin zur Berufsunfähigkeit ablösen. Und da muss die Schule einfach gegensteuern. Wir dürfen nicht zulassen, dass so viele Kinder und Jugendlichen schon betroffen sind.