Medizin

Neues Implantat: Laufen trotz Querschnittslähmung

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Autor/in
David Beck
Bild von David Beck, Reporter und Redakteur SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR Kultur Impuls.
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Elisabeth Theodoropoulos

Mit einer Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle ist es Forschenden gelungen, einem bislang gelähmten Patienten zumindest etwas Mobilität zu ermöglichen. Ist das ein medizinischer Durchbruch für Querschnittgelähmte?

Ungefähr 140.000 Menschen in Deutschland leben mit einer Querschnittslähmung. Heilbar sind diese Schädigungen des Rückenmarks nicht – oder zumindest noch nicht. Bereits jetzt ist es möglich, Nervenzellen unterhalb der Verletzung im Rückenmark zu stimulieren und so zum Beispiel das Bein auf Knopfdruck zu einer Bewegung anzuregen.

Implantate im Gehirn können "Gedanken lesen" und führen Gehimpuls aus

Eine Forschungsgruppe aus Lausanne hat das jetzt bei einem 40-jährigen Querschnittsgelähmten weitergesponnen: Ein Implantat im Gehirn entschlüsselt die Nervenimpulse – liest praktisch seine Gedanken, ob er einen Schritt gehen will – und leitet diese Information dann an ein Implantat im Rückenmark weiter, wo der Schritt ausgelöst wird. Ein Brain-Spine-Interface, Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle, nennen die Forschenden das und konnten so dem Patienten zumindest ein bisschen Mobilität ermöglichen.

Digitale Illustration der Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle.
Die digitale Illustration der Gehirn-Rückenmarks-Verbindung zeigt, wie das Implantat im Gehirn mit Hilfe von künstlicher Intelligenz Nervenimpulse aus Osrams Gehirns interpretieren und dann über eine drahtlose Verbindung zum zweiten Implantat im Rückenmark weiterleiten kann, dadurch werden Bewegungen in seinem Bein ausgelöst.

Erster Patient in den Niederlanden kann nach Jahren im Rollstuhl wieder selbstgesteuert gehen

Gert-Jan Oskam aus den Niederlanden ist seit fast zwölf Jahren querschnittsgelähmt. Bei einem Verkehrsunfall erlitt er eine sogenannte zervikale Fraktur – er brach sich den Hals. Er verlor die Kontrolle über seine Beine und zum Teil auch über seinen Rumpf und seine Arme.

Es passierte in China und ich dachte, wenn ich wieder zuhause bin, werde ich repariert, aber das ging nicht mehr. Ich lag ein Jahr lang im Bett, bevor ich mit der Reha anfangen konnte. Erstmal lernte ich mich anzuziehen. Aber ich wollte wieder laufen lernen und ich glaubte, dass ich das schaffen kann. Irgendwann habe ich eine Ärztin gefunden, die auch an mich glaubte und sie lud mich nach Lausanne ein.

Oskam bekam die zwei Implantate – eines unterhalb der Verletzung in der Wirbelsäule am Rückenmark und ein zweites unter der Schädeldecke auf dem Gehirn. Es ist ein Vorteil dieser Methode, dass das Implantat nicht ins Gehirn eingesetzt werden muss. So ist die nötige Operation einfacher für die Chirurgen, geht mit einem geringeren Risiko einher und das Implantat ist wahrscheinlich auch länger funktionsfähig, bevor es ausgetauscht werden muss.

Digitale Illustration der Implantats Platzierungen.
Eines der Implantate ist unter der Schädeldecke auf dem Gehirn und das andere Implantat ist bei Osram unter der Verletzung an der Wirbelsäule am Rückenmark angebracht.

Nach nur wenigen Minuten Training konnte das Implantat mithilfe von künstlicher Intelligenz Nervenimpulse aus Oskams Gehirns interpretieren und über eine drahtlose Verbindung zum zweiten Implantat Bewegungen in seinem Bein auslösen. So konnte er – zum ersten Mal seit seinem Unfall – nur durch einen Gedanken sein Bein bewegen.

Ich musste wieder lernen, normal zu gehen, wie natürliche Schritte funktionieren. Das war ein Prozess, denn auf diese Art hatte ich das seit fast zwölf Jahren nicht mehr gemacht.

Auf diese Art – damit meint Oskam, dass er bereits durch ein früheres Implantat in seiner Wirbelsäule wieder gehen konnte, allerdings konnte er dieses Implantat nicht mit seinen Gedanken ansteuern. Es musste von außerhalb des Körpers aktiviert werden und führte dann einen vorprogrammierten Schritt aus. Das stresste ihn, sagt Oskam, denn er musste dem Rhythmus folgen, ansonsten funktionierte der Schritt nicht richtig und er musste anhalten.

Vorher kontrollierte die Stimulation mich, jetzt kontrolliere ich sie mit meinen Gedanken.

Bisher ist der Niederländer Gert-Jan Oskam die einzige Person, die das System getestet hat

Bis jetzt ist das System allerdings erst an einer Person getestet worden. Damit ist zwar bewiesen, dass das Konzept grundsätzlich funktionieren kann, doch bisher nur unter den bestimmten Voraussetzungen, die der Proband Gert-Jan Oskam mitbringt. Zum Beispiel ist seine Verletzung des Rückenmarks nicht komplett, einige Nervenfasern können noch Impulse weiterleiten. Außerdem hat Oskam bereits andere experimentelle Systeme ausprobiert, die zeigten, dass eine externe Stimulation der Nerven bei ihm funktioniert.

Gert-Jan Oskam steht freihändig mithilfe der Implantate im Gehirn und Rückenmark im Lausanner Universitätsklinikum.
Bisher ist zwar nachgewiesen, dass das System funktioniert, jedoch nur unter den bestimmten Voraussetzungen, die der Proband Gert-Jan Osram mitbringt.

Ob das bei allen Querschnittsgelähmten geht, ist noch nicht ganz klar. Und Oskam ist außer der Querschnittslähmung sehr gesund. Er hat keine Erkrankungen, die das System beeinflussen könnten.

Forschende sind optimistisch, dass das System auch bei anderen Querschnittsgelähmten funktionieren kann

Doch die Forschenden sind sich sicher, auch anderen Querschnittsgelähmten – auch solchen, bei denen das Rückenmark komplett durchtrennt ist – kann mit der Schnittstelle zwischen Gehirn und Rückenmark geholfen werden.

Gert-Jan Oskam hat das System mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Unfall implantiert bekommen und konnte innerhalb weniger Minuten wieder bewusst Bewegungen in seiner Hüfte und seinen Beinen auslösen. Würde die Methode so früh wie möglich nach der Verletzung angewendet, sagen die Forschenden, sei das Potential noch viel größer, viel mehr Kontrolle zurückzuerlangen.

Gert-Jan Oskam läuft an Krücken mithilfe der Implantate im Gehirn und Rückenmark.
Gert-Jan Osram kann, nachdem er wegen eines schweren Unfalls seit über 10 Jahren im Rollstuhl sitzt, mithilfe der Implantate im Gehirn und Rückenmark wieder an Krücken laufen.

Und auch, wenn sich herausstellen sollte, dass das System nur unter bestimmten Voraussetzungen funktioniert, ist es ein großer Schritt hin zur Heilung einer bisher unheilbaren Krankheit. Und für Menschen wie Gert-Jan Oskam, bedeutet das eine verlorengeglaubte Freiheit zurückzuerlangen.

Ich kann mindestens 100, 200 Meter gehen, je nach Tagesform. Und ohne mich festzuhalten kann ich zwei, drei Minuten stehen. Letzte Woche gab es Malerarbeiten zu tun und niemand konnte mir helfen, also habe ich meinen Rollator genommen und habe selbst gemalt – im Stehen.

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David Beck
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Elisabeth Theodoropoulos